Gelegentlich stellt sich ein Text so offensichtlich gegen den „Zeitgeist“, dass der Leser sich wundert. So steht es auch mit Christoph Heins Roman Guldenberg. Bad Guldenberg ist ein Kaff, dessen Bürger sich gern an bessere Zeiten erinnern. Erst ereilte Guldenberg der ökonomische Niedergang, dann kamen die Flüchtlinge. Endlich findet der Biedermeier einen Grund, zum Brandstifter zu werden, als die Kunde einer möglichen Vergewaltigung durch „Asylanten“ durch den Ort geht.
Der Bürgermeister des Kaffs, Konstantin Kötteritz, Typus Bürokrat, wirkt gleichermaßen bemüht wie hilflos. Der Polizeiobermeister Kremer, auf dem rechten Auge kurzsichtig, ist Law-and-Order-Adept. Unternehmer Haubrich-Becker hat es mit seinen „Töfflis“ zu neureichem Wohlstand gebracht. Pfarrer Fuschel will versetzt werden. Sozialarbeiterin Marikke Brummig setzt sich als gestrenge Mutter-Freundin für ihre geflüchteten Schützlinge ein. Der Adil schlüpft in die Rolle des Fremden, der in das Kollektiv eindringt – freilich unfreiwillig. Er wäre lieber in Berlin gelandet.
Es gibt zwei weitere Protagonistinnen, die uns einen Hinweis auf die literarische Folie für Heins Roman geben: ein junges geschwängertes Mädchen, das vor Scham aus der Stadt fliehen will, sowie eine alte Frau, die buchstäblich mit den Gespenstern der Vergangenheit spricht und uns eine weibliche Perspektive auf die Geschichte der Stadt eröffnet. Sie erscheinen wie die gespaltene Version der Claire Zachanassian aus Friedrich Dürrenmatts Der Besuch der alten Dame.
Heins Roman ließe sich umstandslos als Bühnenstück inszenieren, denn er besteht vor allem aus Dialog. Auffällig oft entfaltet Hein in den Dialogen die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt als Niedergangsgeschichte, in der mysteriöse Brände eine Rolle spielen. Gleich zweimal in Folge spricht der Unternehmer Haubrich-Becker von „moralischem Verschleiß“ seiner Fabrikate, wobei man den Marx’schen Theoriebegriff auch auf die Bürger Guldenbergs übertragen kann. Haubrich-Becker, ganz Kapitalist, stört sich nicht an den Flüchtlingen, sie werden ihm gar als nomadisches Proletariat schmackhaft gemacht.
Sowohl in den Dialogen als auch in den erzählenden Passagen springt die gespreizte Sprache ins Auge. Ein Verfremdungseffekt? Jedenfalls traut man Hein eher nicht zu, unbeabsichtigt hölzerne Dialoge wie diesen zu fabrizieren: „,Beim Thema Juden und Homosexuelle, da rasten viele der Jugendlichen aus, diese Menschen gelten in vielen arabischen Ländern nicht als gottgefällig, so wurden sie daheim erzogen.‘ ,Ja, ich las in der Zeitung, dass sehr viele muslimische Flüchtlinge Antisemiten sind.‘“
Nicht weniger befremdlich wirkt ein Dialog der schwangeren Barbara mit dem Pfarrer: „‚Meine Mutter hat beim Wäschewaschen etwas bemerkt. Weil ich seit drei Monaten nicht mehr die Periode hatte (...) und mich dann ins Gebet genommen. – Entschuldigen Sie, Hochwürden, das ist mir jetzt so rausgerutscht. Ins Gebet nehmen, das sagt man bei uns so.‘ ‚Ich weiß, ich bin doch nicht weltfremd, mein Kind.‘“
Natürlich ist Hein nicht weltfremd genug, um nicht zu wissen, dass keine 14-Jährige heute so spricht. Nun stelle man sich dasselbe Thema von einem jungen, urbanen, hippen Autor, potenziell mit Migrationserfahrung, entfaltet vor. Dieser Text würde nur so von Slang, Idiomen und dergleichen mehr strotzen. Hein hingegen wählt eine Sprache, die umso unpassender wirkt, je mehr sie vermeintlich dem Klischee des Sprechers entspricht. Dass die Jüdin Malka Goldt unentwegt jiddische Lehnwörter wie „Chuzpe“ oder „meschugge“ verwendet, nimmt man Hein beinahe übel.
Es ist die alte Dame ...
So wird mit fortlaufender Lektüre zunehmend die ent- und befremdende Sprache zum Thema des Textes, womit Hein, ehemals Dramaturg an der Ostberliner Volksbühne, wiederum an eine ältere Theatertradition anknüpft. So erscheint der Roman wie ein Lehrstück, das auf eine Bühneninszenierung wartet.
Nun wählt Hein auch nicht zufällig Dürrenmatt als Vorlage. Dürrenmatts Stück wurde im Osten (die Rezensentin erinnert sich gut an Deutschstunden der Oberstufe) stets als süffisante Kapitalismuskritik gefeiert. Tatsächlich springt aber doch ein verschwörungstheoretisches Moment ins Auge: Es ist die alte Dame, deren neuer Name obendrein auf das internationale Finanzkapital verweist, die den Niedergang Güllens bewusst herbeiführte. Hein entzieht dem Stoff klugerweise diese Dimension, deutet aber immerhin an, dass auch die Brände in der Geschichte Guldenbergs kein Zufall sind. Dienten auch sie der Rache?
Bei Hein erzählt die alte Dame von der Zeit, als sie sich als Jugendliche mit einem Knüppel gegen sexuelle Übergriffe von Verwandten und Bekannten wehren musste. Man könnte hierin auch einen Hinweis auf die Schwangerschaft des Mädchens lesen. Vergewaltigungen sind Guldenberg keineswegs so fremd, wie von seinen Bürgern behauptet wird.
Zum Schluss darf Guldenberg in seinen „geschichtslosen Alltag“ und den „gewöhnlichen Rhythmus eines erschöpften Schlendrians“ zurückkehren. Ob das als Happy End gelten darf?
Info
Guldenberg Christoph Hein Suhrkamp 2021, 284 S., 23 €
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