Es ist ein Selbstbildnis mit Potenzial für Skandal: Da sitzt sie, die Mutter, nackt ins karge Nichts des Raums blickend, den Arm spannungslos um den Stuhl gelegt, auf dem der ebenso nackte Sohn sitzt. Über beiden baumelt eine nackte Glühbirne, links hinter der Malerin ein Gemälde, das an die Selbstbildnisse Max Beckmanns erinnert: ein selbstbewusst zum Betrachter gewandter Mann. Ganz anders die Malerin, die sich hier verewigt. Doris Zieglers Alter Ego auf der Leinwand wirkt müde. Es ist gewiss nicht das Bild von sozialistischer Mutter- und Künstlerschaft, das der Verband Bildender Künstler der DDR erwartete. So wurde dieses Bildnis zwischen Zweifel und Selbstermächtigung zur Provokation und zum letzten Kunstskandal der untergehenden DDR. Zugleich setzt das Gemälde alle Koordinaten des Werkes von Doris Ziegler ins Bild: eine protofeministische künstlerische Selbstbehauptung, das Selbstbildnis, das für Zieglers Werk so zentral ist (auch wenn es oft in Verwandlungen auftritt), und den Bezug auf neusachliche Malerei.
Zu sehen ist dieses Selbstbildnis in der Ausstellung, die 20 Gemälde aus den Jahren 1977 bis 2016 zeigt, also einen weiten Bogen über viele Schaffensjahrzehnte hinweg spannt. Eine Ausstellung, die stark verdichtet, was Ziegler in ihrer unprätentiösen Art mit den Worten kommentiert: „Ich weiß gar nicht, ob diese Dichte nicht verklumpt.“ Für den Betrachter klumpt hier nichts, vielmehr freut man sich schlicht über die Fülle der von Paul Kaiser kuratierten Ausstellung.
Es ist die erste Einzelschau Zieglers in einem Museum ihrer Heimatregion. Das befremdet, gehört Ziegler doch der weltbekannten Leipziger Schule an. Allerdings ist sie Teil der zweiten Generation, der Zwischengeneration. Als Schülerin Werner Tübkes und Walter Mattheuers verschattet von deren Rolle als Vertreter des offiziellen DDR-Kunstsystems (lange Zeit als „staatstragende Künstler“ apostrophiert), nach der Wende für obsolet erklärt und dann vom Ruhm der Generation um Neo Rauch abermals in den Schatten gestellt.
Typischer Pierrot
Zieglers Werk ist vieles: verschlüsselt-rätselhaft in seinen dichten Metaphern sowie erzähl- und auskunftsfreudig gleichermaßen. Immer wieder sind da Straßenszenen, der Leipziger Stadtteil Plagwitz mit seiner Mischung aus Gründerzeit- und Industriebauten, der in der DDR das spannungsreiche Verhältnis zwischen Sozialismus und bürgerlicher Vorkriegsgesellschaft illustrierte. Bei Ziegler harren die Menschen in Warte- und Durchgangsräumen aus. Am deutlichsten zu sehen ist das in ihrem Passagen-Werk, dem bedeutendsten Werkzyklus Zieglers, der mit Passage I (1988) in der Ausstellung vertreten ist. Man sieht fünf sitzende, wartende Personen im Bildvordergrund. In einem Geschäft links von der Gruppe, einer Art Herrenausstatter, glaubt man Max Beckmann stehend zu erblicken. Man schmunzelt über die Frau im Vordergrund – eindeutig ein Bildnis Frida Kahlos, die berühmt ist für ihre Selbstporträts. Hinter ihr schaut, blass und klein, ein Pierrot hervor, dem man die Gesichtszüge Zieglers abliest. Der Pierrot ist typisch für Zieglers Werk: Selbst eine metaphorische Maske, ein naiv-trauriger Clown und ein Verweis auf Vorbilder, hier auf das Werk Antoine Watteaus.
Der Passagen-Zyklus illustriert die Wendegesellschaft, die wartet, auf bessere Zeiten. „Alle Hoffnungen sind in die Binsen gegangen.“ 1983 darf Ziegler in den Westen reisen, in einer Beckmann-Ausstellung sieht sie zum ersten Mal Die Nacht, sie musste weinen, sagt sie, so ergriffen sei sie gewesen. Kunst als Offenbarung.
Das titelgebende Werk der Ausstellung Ich bin Du (1988) zeigt Ziegler in der Verdopplung, einmal als Frau und einmal als Mann. Die weibliche Figur wirkt etwas munterer, aktiver, die männliche Figur dagegen beinahe gehemmt. Entstanden ist das Bild aus Zieglers Beschäftigung mit Elisabeth Badinters gleichnamigem Buch, das von einer Androgynität aller Menschen ausgeht und die Beziehungen zwischen Männern und Frauen auslotet. Auch diese Arbeit galt als provokativ, schleuste sie doch westlich-feministische Vorstellungen in DDR-Diskurse ein.

Foto: Atelier Doris Ziegler, VG Bild-Kunst, Bonn 2023
Dass die DDR-Frauen auch deshalb ihre androgyne Seite entdecken mussten, weil ihnen die Männer bisweilen abhandenkamen, wenn sie „rübermachten“, zeigt das Bildnis Nora, Uta, Samuel, Martin, Adrian, Thora, Till, Ben, Maria und Selbst (1982). Die Malerin stellt sich und zwei Künstlerfreundinnen im Kreise ihrer Kinder dar. Man teilte sich die Fürsorge für die Kinder, denn alle Frauen waren Alleinerziehende. Zeitweilig habe sie mit zwei oder drei Kleinkindern im Krabbelställchen in ihrem Atelier gemalt. Im Gegensatz zu den Kindern schauen die Frauen im Bild betreten ins Nichts. Nur Zieglers Doppelgängerin fokussiert den Betrachter unmittelbar.
Sie habe einmal nachgezählt, sagt Doris Ziegler in der Ausstellung: Sie habe 28 Selbstbildnisse gemalt. Und trotzdem will es scheinen, als blicke sie allenthalben aus ihren Bildern. Das habe aber eher an einem Mangel an Modellen gelegen, sagt sie schmunzelnd. Die großartige Ausstellung jedenfalls lädt dazu ein, Doris Ziegler in all ihren Maskenspielen kennenzulernen.
ICH BIN DU! Kunstmuseum Moritzburg Halle, bis 21. Mai
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