Es gab eine Zeit, da war das Internet verheißungsvolles Versprechen. Es war die Zeit, als man sich mittels AOL-CDs in das World Wide Neuland einwählte und auf Blogs mit lila oder rot hinterlegten Textfeldern GIFs teilte. Eine Zeit des Aufbruchs. Damals trieb sich auch ein junges Mädchen namens Jia im Netz herum, bastelte an ihrem ersten Blog, auf dem sie die Lyrics der Pop-Rock-Band Smash Mouth sammelte und Tagebuch führte. Das Netz war so unschuldig wie Jia, das Leben war schön.
Heute gilt Jia Tolentino als junge Star-Essayistin. Trick Mirror ist eine Sammlung von neun Essays, die sich dem Leben in der Welt nach dem Netzzugang widmen. Sie sind Pop- und Kulturkritik, geschrieben und gefiltert von dem Gehirn einer Digital Native. Tolentino gehört zur ersten Generation derjenigen, deren Leben nicht nur mit dem Netz verwachsen ist, sondern das Netz ist. Es gibt kein Entkommen, kein Ausschalten, das Netz ist ihr Leben. Tolentinos Karriere begann auf dem Online-Portal Jezebel, nach eigener Auskunft „A Supposedly Feminist Website“. Eine feministische Grundhaltung, gepaart mit einer großen Portion Selbstironie – Jezebel und Jia Tolentino haben viel gemeinsam.
In Trick Mirror verbindet sich der explizite Bezug auf die eigenen Erfahrungen – wie die Teilnahme an einer peinlichen Reality-TV-Show – mit einem traumwandlerisch sicheren Umgang mit den Phänomenen des Netzes. Permanent wechselt sich ein zutiefst nachdenklicher Ton mit urkomischen Reminiszenzen ab, mal wirkt das Schreiben literarisch stark überformt, mal dokumentarisch und analytisch.
Man musste einfach teilhaben
Tolentino ist selbst das beste Beispiel für das Problem, das sie in Über das inszenierte Ich für die Netzkultur im Internet identifiziert: „Durch den Aufstieg des Bloggens wurde aus dem persönlichen Leben ein Allgemeingut und soziale Anreize – gemocht zu werden, gesehen zu werden – verwandelten sich in wirtschaftliche. Die Mechanismen der Online-Entblößung wirkten allmählich wie eine geeignete Grundlage für eine Karriere.“ Die Grundlage der Essays ist ebendieses Dilemma: Tolentino ist, was sie ist, weil sie im Netz ist, das sie für seine toxische Kultur kritisiert. Tolentino fragt, wann das Netz so schrecklich wurde – und warum wir trotzdem teilhaben. Als Beginn setzt sie etwa das Jahr 2012 an, als sich Facebook und Twitter zu gigantischen Massenphänomenen entwickelten. Als jeder sich anmeldete, ohne so recht zu wissen, warum. Man musste einfach teilhaben. Und dann geschah etwas ungemein Politisches: „Durch die sozialen Medien sind viele Menschen schnell zu der Ansicht gelangt, alle neuen Informationen seien eine Art direkter Kommentar darüber, wer sie sind.“ Aufstieg und Kritik der Identitätspolitik (die übrigens auch weiße evangelikale Waffennarren betrifft) sind nur im Rahmen der vernetzten Welt denkbar.
Tolentino sieht die Lösung des Problems nicht darin, dem Internet den Rücken zu kehren: „Selbst wenn man das Internet völlig meidet – wie mein Partner, der ewig dachte, #tbt bedeute ‚truth be told‘ –, lebt man dennoch in der Welt, die durch dieses Internet erschaffen wird, einer Welt, in der das Selbstsein die letzte Naturressource des Kapitalismus geworden ist, einer Welt, deren Bedingungen von zentralisierten Plattformen festgelegt werden, die bewusst nahezu unkontrollierbar gestaltet wurden.“
Faszinierend sind die Essays nicht allein wegen ihrer Themen – es sind popkulturelle Themen, die zu allen Zeiten von unzähligen Autoren bearbeitet werden –, noch ist es die Herangehensweise – ein eklektizistisches Zitieren aus Primär- und Sekundärliteratur –, sondern die Verknüpfung von scheinbar völlig unzusammenhängenden Themenfeldern. Was hat Screw-Hip-Hop mit den Kirchen und Autobahnen in Houston, englischen Mystikerinnen und Cheerleading-Träumen zu tun? Bei Tolentino: einfach alles!
Jeder Text ein Parforceritt, durch Mädchenliteratur, Netzfeminismus, Blogosphäre, das Leben in Shit-Gewittern. Elena Ferrante hat ihren Auftritt ebenso wie Melania Trump. Es geht um schwierige Frauen und die Kritik an dem so ganz und gar kapitalismustauglichen Mainstream-Feminismus. Man merkt Tolentino die intime Kenntnis der Netzwelt an, jeder Essay ist voll von spannenden Gedanken zu seinen Themen, auch wenn der Leser in dem Themenfeld bewandert ist. Tolentino zeigt, dass einfach alle Phänomene des Netzes hochpolitisch sind – von der Selbstoptimierungskultur über Hashtag-Architektur bis hin zur Entwicklung einer Online-Persona, die das wahre Ich überlagert. Obgleich diese Themen tausendfach aufgegriffen wurden, liest man doch so viel Neues.
Besonders spannend erscheint Tolentinos Kritik am Netzfeminismus, wobei ihre Perspektive eine dezidiert feministische ist. Ihr Essay Der Kult um die schwierige Frau kritisiert scharf die Umdeutung noch so problematischer Frauenfiguren wie Melania Trump oder Britney Spears zu feministischen Heldinnen. Eine Frau sei keine Heldin, nur weil sie „schwierig“ sei oder Opfer patriarchaler Strukturen werden könne, die sie selbst tatkräftig unterstütze.
Selten hat man ein Buch gesehen, dem so viele „Blurbs“, also Kritikerzitate, vorangestellt wurden. Blurbs sind berühmt dafür, nichtssagend zu sein, denn in ihnen ist ein Buch stets ein Stern, der vom Himmel fällt, das beste Buch überhaupt, seit es Bücher gibt, mindestens. Nun sind die versammelten Blurbs wiederum so eigentümlich, dass man aufhorcht, beispielsweise wenn Star-Pianist Igor Levit mit diesem Satz zitiert wird: „Nach der Lektüre habe ich einmal mehr verstanden, was bei meinen Konzerten in mir vorgeht, und warum es passiert.“ Einmal mehr! Was er da fühlt und an welcher Stelle im Text er sich daran erinnert fühlt, das bleibt im Dunkeln, aber vielleicht ist das des Pudels Kern: dass sich jeder in diesen Texten wiederfindet, ob er nun eine Instagram-Seite besitzt oder schon mal auf Ecstasy oder Pilzen Bäume umarmt hat. Die Texte sprechen von uns.
Tolentino wiederum ringt mit der Tatsache, dass das, was sie kritisiert – der Aufstieg von Social-Media-Plattformen, „diesen süchtig machenden, betäubenden Informationsschläuchen, mit denen wir den lieben langen Tag auf unsere Gehirne zielen“ –, unbedingte Voraussetzung ihres Erfolgs ist. Sie kann nicht aufhören, von sich zu erzählen. Sie kann nicht aufhören, im Netz zu sein. Aber sie kann kurzfristig fliehen: in das klassische Medium der Erkenntnis, das Buch.
Info
Trick Mirror. Über das inszenierte Ich Jia Tolentino Margarita Ruppel (Übers.), S. Fischer 2021, 368 S., 22 €
Kommentare 20
aber das "buch/book" piept nicht....
Bestimmt interessant. Die eigenen Illusionen über eine Netzgesellschaft - eine Art Sozialismus 2:0 - und die neuen Mitteilungserfahrungen, das ist schon eine spannende Entwicklung, die mir auch irgendwie noch ganz gegenwärtig ist.
Ja, das klingt interessant.
„Tolentino sieht die Lösung des Problems nicht darin, dem Internet den Rücken zu kehren: „Selbst wenn man das Internet völlig meidet – wie mein Partner, der ewig dachte, #tbt bedeute ‚truth be told‘ –, lebt man dennoch in der Welt, die durch dieses Internet erschaffen wird, einer Welt, in der das Selbstsein die letzte Naturressource des Kapitalismus geworden ist, einer Welt, deren Bedingungen von zentralisierten Plattformen festgelegt werden, die bewusst nahezu unkontrollierbar gestaltet wurden.“
Faszinierend sind die Essays nicht allein wegen ihrer Themen – es sind popkulturelle Themen, die zu allen Zeiten von unzähligen Autoren bearbeitet werden –, noch ist es die Herangehensweise – ein eklektizistisches Zitieren aus Primär- und Sekundärliteratur –, sondern die Verknüpfung von scheinbar völlig unzusammenhängenden Themenfeldern. Was hat Screw-Hip-Hop mit den Kirchen und Autobahnen in Houston, englischen Mystikerinnen und Cheerleading-Träumen zu tun? Bei Tolentino: einfach alles!“
Der interessante Gedanke ist in meinen Augen, dass die Trennungsversuche zwischen Realität oder echter Welt hier und Phantasie und Fiktion da (ein weiteres Mal) nicht aufgehen.
Schade, das war vor 12 h noch vor der Paywall, es wäre eine gute Antwort gewesen:
Archiv der ungelebten Leben
..."Torten-Rezepte, Italien-Reisetipps, kluge Bücher: Tausende Screenshots auf meinem Smartphone erinnern mich an Dinge, die ich tun wollte und nie gemacht habe. Ein Plädoyer für das Vergessen"...
..."Der interessante Gedanke ist in meinen Augen, dass die Trennungsversuche zwischen Realität oder echter Welt hier und Phantasie und Fiktion da (ein weiteres Mal) nicht aufgehen"...
Als Kontrabass von Moorleiche und Nil will ich hier mal aus deiner Sicht positives Anmerken:
Die Traumforschung steht noch ganz am Anfang, und wenn man sich vorstellt das man evtl. im Dschungel ("Sauerstoff bis zum Umfallen"), oder jetzt in entschleunigten Covidzeiten 4 - 6 mal so viel träumt als vor 13 Monaten kann man sich natürlich Fragen wie sich die Leute vor 10000 - 70000 Jahren die Realität vorgestellt haben? Da gab es noch kein Android oder Glotze oder iPad, es gab die "sich in den Bauchzwicken" - Realität ca. 16 h am Tag und Nachts gab es eine ganz andere Realität. Ja und der Mond- (Gott - Göttin?) Was hat der/die denn für eine Funktion?
;-)
Gruss
Und wenn man dann noch bedenkt, dass das Hirn der Menschen damals größer war als unseres und sich mit unserem Resthirn zu denken traut, dass die eben nicht beknackter waren, als wir, uijuijui.
die erlebte realität hatte wahrscheinlich eine größere
"eindringtiefe" als die heute oft nur medial-erlebte.
und die zu verarbeitenden reize waren überschaubarer.
über die "entsorgungs-fähigkeiten" früherer hirne:
weiß ich noch nichtmal was zu vermuten!
https://www.mpg.de/8953555/mpi_evan_jb_2014
;-)
Ich kann mir das Grinsen nicht verkneifen und muss es noch mal loswerden:
"Was haben wir uns durch das Becken bei der Geburt durchgeroechelt".
:-D
Schon vor Mindestens 400000 Jahren, so weit ich mich erinnere, haben die weiblichen Homo Sapiens Haarrisse nach der Geburt im Knochen des Beckens gehabt.
:-(
Die "entsorgungs-fähigkeiten" sind absolut zwingend fuer unser Ueberleben, sonst wuerden wir jeden Tag mit dem Kopf gegen die Wand rennen.
:-O
"wer mit dem kopf durch die wand will,
scheitert meist schon an der tapete"
(denkzone8, sprüche, part of the forthcoming book)
TOP, gemerkt.
Danke, für den interessanten Artikel. Mir ist aber nicht klar, warum Du ihn verlinkt hast. Ist er Widerspruch, Unterstützung, reine Information? Denn eigentlich berührt er das, was ich schrieb ja gar nicht. Dort steht, dass das Gehirn des Menschen dramatisch gewachsen ist, mehr als beim Schimpansen und vermutlich anders als beim Neantertaler und dass es auf die Vernetzung der Nervenzellen vor allem in den ersten Jahren nach der Geburt ankommt. Genau die Zeit, auf der die Psychoanalyse so herumreitet.
Meine Aussage bezog sich aber auf die Untersuchung der Hirngröße zwischen (Früh)-Mensch und heutigem Menschen. Befund: Das Gehirn ist geschrumpft. Dazu sagt der Artikel nichts, spannend ist er trotzdem.
Noch mal zu der Bedeutung des Traums, die Du anführst. Diese rigide Trennung zwischen einer Innenwelt, die wir für nicht so entscheidend halten und einer Außenwelt, auf die wir unser Augenmerk legen, war früher sicher anders (nicht so rigide), wenn es stimmt, dass man in der Ruhe 4 – 6 mal mehr träumt (kann ich durchaus nachvollziehen und bestätigen), dann wird der Traum, wird die Innenwelt allgemein eine ganz andere Rolle im Leben gespielt haben, als das in unserer, maximal auf immer kürzere Außenreize fixierten Welt der Fall ist.
Mütter suchen heute manchmal mehr Blickkontakt mit dem Smartphone, als mit dem Baby, der Nachwuchs denkt, dass er „Alexa“ heißt, weil öfter mit der Onlinewelt als mit dem Kind kommuniziert wird, da werden dann wohl einige Neuronen nicht verknüpft.
Immerhin ist aber auch das Ich ein ziemlich virtuelles Ding – im Hirn hat man es nie gefunden, also auch nicht per Bildgebung – unser aller Geld funktioniert ausschließlich darüber, dass an seinen Wert geglaubt wird – ein eindrucksvolles Buch dazu lese ich gerade – mit den Folgen, die Linke der scheinbar ungerechten Geldverteilung anlasten wollen. Wenn allerdings das Geld selbst und gerade nicht seine Verteilung das Problem ist, macht die Andersverteilung das Grundproblem nicht besser. Und wer ein bisschen Innenschau betreibt und mit anderen redet, wir merken, dass die Innenwelten dieser anderen doch mitunter deutlich anders sind (falls es noch gelingt, so eine innere Architektur, ein mehr als oberflächliches Bild des anderen in sich zu errichten). Vor allem aber, dass wir auch heute noch kaum über das reden und nachdenken, was wir für die so unumstößlich wichtige und einzig bedeutende äußere Realität halten, sondern weitaus mehr mit kommenden und gewesenen Möglichkeiten spielen, Husserls und Heideggers erstaunlich frische Erkenntnis am Beginn des 20. Jahrhunderts, die auf die gewaltige Bedeutung der Möglichkeiten verweist – und Freud beackerte das Feld zur gleichen Zeit auf seine Weise.
Im Privaten phantasieren wir darüber, wie wir wohl ankommen, was der oder die über mich denkt, spielen bestimmte Gespräche wieder und wieder durch, schleppen Blicke und Gesten erfreut oder beleidigt mit und interpretieren alles, was uns begegnet anhand der Möglichkeiten unseres inneren Malkastens. Dass das virtuelle Ich auch einen durchaus größeren Teil der Ich-Identität ausmacht und dass diese angeblich nicht so wirklich realen Welten (aber was wäre das für eine verstaubter Realitätsbegriff?) sich dann doch immer wieder als so attraktiv erweisen, dass sie zur Sucht werden können oder eben zur bevorzugten Lebenswelt, steht uns jetzt in Gestalt von Jia Tolentino (die ich nicht kenne), vor Augen.
Ich würde kühn behaupten, dass das nie großartig anders war, innere oder vermeintlich virtuelle Welten und äußere Geschehnissen haben einander vermutlich immer schon durchdrungen und der Kontakt mit dem Außeralltäglichen war immer schon das Salz in der Suppe. Mit gravierenden Einschnitten, die die Richtung veränderten, die Sprachentwicklung war einer davon.
Was mich immer wieder fasziniert, ist, wie fundamental verschieden das, was man sieht und erlebt, wenn man nebeneinander durch den Wald geht, im Bus sitzt, ein Buch liest oder einen Film schaut – kurz und gut: mehr oder minder das Gleiche tut – doch ist.
Stellt man sich dann noch vor, dass es fundamental andere kulturelle Interpretationsmodi gibt, dann kann man erahnen, wie weit weg vergangene Zeiten und Kulturen wirklich waren. Inwieweit es gelingen kann, deren Welterleben retrospektiv zu teilen, ist die Frage, die sich anschließt.
„über die "entsorgungs-fähigkeiten" früherer hirne:
weiß ich noch nichtmal was zu vermuten!“
So wie es aussieht, wird das, was nicht gebraucht wird einerseits vergessen, andererseits scheint es so zu sein, dass die Muster dennoch weiter da sind. Es könnte keine Regressionen geben, wenn es anders wäre. Es gibt Berichte, dass Menschen in Notsituation auf einmal Fähigkeiten re-aktivieren, von denen sie vorher gar nicht wussten, dass sie sie hatten.
Schwierig wird dann die Einteilung. Faschisten, Söldner und Extremsportler können dem nur modernen Leben offenbar so wenig abgewinnen, dass sie Menschen, die nicht immer wieder um ihr nacktes Überleben kämpfen wollen, absprechen überhaupt begriffen zu haben, was wirkliches Leben ist: in ihren Augen nämlich oft genau das, der Kampf als Lebensprinzip.
Andere sprechen ihnen genau aus diesem Grund ab, vom Leben irgendwas begriffen zu haben. In ihren Augen ist das Leben die Kunst, die Reflexion, die immer feinere Ausdifferenzierung. Was erst beginnen kann, wenn man nicht mehr ums Überleben kämpfen muss.
Andererseits können die Gipfelerfahrungen dieser scheinbar doch so unterschiedlichen Lebensansätze dann wieder erstaunlich ähnlich sein.
"kann man sich natürlich Fragen wie sich die Leute vor 10000 - 70000 Jahren die Realität vorgestellt habe"
William Golding hat sich das auch gefragt und dazu den Roman "The Inheritors" (Die Erben) geschrieben. Homo sapiens trifft auf Neandertaler (der mit dem größeren Gehirn).
Das war nur ein Infolink. Ohne Aussage. Und...
Interessante Antwort. Danke
Das versuche ich mir mal zu besorgen. Danke
Okay, danke, dann kann ich das besser einordnen.
Allgemein wird akzeptiert, dass der Mensch teile seines 'Gehirns' als soziales Gedächtnis ausgelagert hat, in sozialen Praktiken, Gewohnheiten, Ritualen, Institutionen. Auch in der Tradierung von Wissen, es muss nicht jeder die Entfernung zum Pluto neu vermessen oder den Satz des Pythagoras neu erfinden.
Man kann die Erkenntnisse anderer verwenden (Berechtigungen erben), idealerweise, wenn man sie wenigstens zu einem guten Teil verstanden hat. Da geht heute vieles durcheinander, weil immer mehr Menschen sich auf Halb- oder auch mal gar nicht Verstandenes berufen. Da geht der Glaube oder die Überzeugung dann umstandslos in (gefühltes) Wissen über und im Internetzeitalter findet sich garantiert für alles auch eine Pseudobegründung. Irgendein Prof. Dr. ist immer auch zu finden, der die absurdeste Meinung teilt.
Das wiederum ist sehr verlockend für den Aufbau einer virtuellen Identität, in der man dann auf einmal glänzen kann, während das im Alltag vielleicht weniger gelingt und mühevoller ist.
Nicht alles Wissen ist dieses schnell abrufbare Lexikonwissen, vieles muss man wirklich selbst verstehend erschließen. So wie es anstrengender ist, sich ein Hemd selbst zu nähen oder den Auspuff selbst zu schweißen, ist es eben auch hier. Viele schenken sich inzwischen diesen Schritt, etwas zu lernen, weil sie ja wissen, dass alles was sie wissen müssten, theoretisch zur Verfügung stünde, bei Wiki oder sonst wo. Am Ende dieser Strecke könnte dann alles prima funktionieren, gerade weil die Menschen immer bekloppter werden. Das Hirn schrumpft, der IQ sinkt, was man vorhat sagt einem die Smartwatch.
Aber es gibt es auch optimistische Versionen, in der ein reifes Ich es schafft Systeme (und seine Zwänge) als Werkzeuge eben dieses Ichs zu sehen (ohne dass das notgedrungen Egozentrik bedeuten muss) und sich all dessen auch selbstbestimmt zu bedienen. In dem Fall ist auch die virtuelle Identität nur eine weitere, unproblematische Facette eines komplexen und kompetenten Ich.
Zwischen diesen beiden Polen wird die Schere weiter auseinander gehen und es liegt in der Verantwortung der Komplexeren, soziale Praktiken zu kreieren und zu etablieren, in denen auch einfach gestrickte Menschen ihr würdevolles und anerkanntes Dasein finden und aktiv und anerkannt am Ganzen einer Gesellschaft teilhaben können.
Super, durchaus stimmig. Das wird ein interessantes Sprüchebuch