Ich Tarzan, du Affe

Tierethik Die Empörung über die Erschießung des Gorillamännchens Harambe zeigt menschliche Doppelmoral und die Notwendigkeit der Diskussion von Tierethik

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Die Gorilla-Statue im Cincinnati Zoo ist zwar nicht Harambe gewidmet - hat aber Symbolkraft
Die Gorilla-Statue im Cincinnati Zoo ist zwar nicht Harambe gewidmet - hat aber Symbolkraft

Bild: John Sommers II/Getty Images

Wenn sich Mensch und Menschenaffe im Film begegnen, erscheint der Affe häufig als der echte Mensch. „Echt“ meint hier, dass der Affe über emotionale Qualitäten, die ihn über den Menschen erheben, verfügt. Alle Eigenschaften, die wir für Vorzüge unserer Spezies halten - Altruismus, Mitgefühl, soziale Intelligenz - fallen in Filmen dem Affen zu, ob er nun sprechen oder nur durch Mimik und Laute kommunizieren kann. Der entscheidende Topos ist die Überlegenheit des Affen als besserer Mensch.

Als vor einigen Tagen im Zoo von Cincinnati ein kleiner Junge in das Gehege des Gorillamännchens Harambe stürzte, erschossen Zoomitarbeiter den Gorilla. Ein Entrüstungssturm breitete sich im Netz aus. Man hätte das Kind auch anders retten können, hieß es. Besonders niederträchtige Stimmen meinten, man hätte doch eher das Kind oder dessen Eltern erschießen sollen (tatsächlich, so etwas liest man in Facebook-Kommentaren). Die Reaktionen auf den Vorfall sind gleichermaßen verwirrend wie aufschlussreich. Verwirrend, weil in Situationen, in denen ein menschliches Kind mit einem gefährlichen Wildtier konfrontiert wird, unsere Sympathie für gewöhnlich dem Kind gehört. Aufschlussreich sind die Reaktionen, weil sie uns einen seltsamen Mechanismus im Umgang mit Tieren, besonders solchen, die uns ähnlich sind, zeigen.

Videos die den Vorfall dokumentieren, zeigen, wie das gewaltige Gorillamännchen das Kind durch den Wassergraben zieht und es schließlich auf einen Felsen schleift. Der Todesschuss rettete das Leben des Kindes. Im Netz aber fanden sich Stimmen von Tierexperten, die das Verhalten des Tieres als nicht aggressiv einstuften. Andere verwiesen auf die sichtbare Angst des Gorillas. Das ist überraschend. Die Vorstellung, dass das Tierverhalten nicht nur beobachtbar, sondern vorhersagbar sei, grenzt an menschlichen Größenwahn, der sehr viel damit zu tun hat, wie unsere Kultur Tiere betrachtet. Wir gehen häufig davon aus, dass das Tier eine Intention hat ("der tut nichts, der will nur spielen"). Eine Intention aber ist etwas anderes als Instinkt. Intentionen existieren da, wo ein Wesen die Folgen und Konsequenzen seiner Handlungen abschätzen und abwägen kann und eine Absicht verfolgt. Instinkte dagegen lassen auf gleiche Situationen und Reize mit gleichen Aktionen reagieren. Vielleicht reagierte der Gorilla auf das Kind wie auf einen Eindringling. Vielleicht wie auf ein Spielzeug. Aber das ist letztlich irrelevant: Denn auch ein spielender Gorilla kann ein Kleinkind spielend leicht töten.

Irgendwann tauchten neue Videos im Netz auf, die zeigten, wie der Gorilla die Hand des Kindes hielt. Das aber ist eine Urszene. Die Menschen- und Gorillahand, die sich begegnen: Wir kennen diese Szene aus Filmen wie Disneys Tarzan. Darin legt Tarzan, der von der Gorillamutter Kala aufgezogen wurde, seine Hand auf ihre. Es ist eine Szene, die gleichermaßen schön wie traurig ist. Weil sie die Nähe zwischen Affenmutter und menschlichem Kind zeigt und zugleich die unüberbrückbare Differenz zwischen beiden sichtbar macht: Sie sind sich ähnlich, aber nicht gleich. Als Tarzan die Differenz begreift, beginnt die Loslösung von seiner Existenz als "Wildtier". Zeitgleich aber fallen Menschen, Wilderer, in den Urwald ein und bedrohen die friedliche Koexistenz von Mensch und Tier. Die Botschaft ist klar: Während sich die Tiere bei der Aufnahme des Menschenkindes in ihre Gemeinschaft als empathisch beweisen, sind es die Menschen, die rücksichtslos die Natur unterwerfen.

Und das ist der eigentliche Grund, warum wir Harambe betrauern: Wir sind doch der Grund, warum Harambe und seine Artgenossen wahlweise vom Aussterben bedroht oder hinter Gittern gesperrt in unseren Zoos zur „Artenkonservierung“ hocken. Wir sind es, die durch Bürgerkriege, Coltanbergbau und Regenwaldrohdung den Lebensraum dieser und unzähliger anderer Spezies zerstören. Und unsere hilflosen Versuche, die Arten zu konservieren – als seien einige in Zoos eingepferchte Nashörner oder Orang Utans Ersatz für die in der Natur für immer verloren gegangene Artenvielfalt als Bestand eines Ökosystems – sind nur Trostpflaster für unser eigenes schlechtes Gewissen. Immerhin, ein schlechtes Gewissen.

Ethik im Umgang Tieren?

Der Fall von Harambe offenbart ein besonderes Dilemma der abendländischen Ethik, die den Menschen über das Tier stellt. Schon in der Genesis wird der Mensch zum Herrn über das Tier. Das Tier durfte über Jahrtausende Mittel zum Zweck sein. Selbst da, wo man seinen Schutz begründet – Kant tut es – geschieht das nicht, weil dem Tier ein ethisches Schutzrecht zugestanden wird, sondern weil das unnötige Quälen und Verletzen des Tieres Menschen verstören könnte, was man gemäß des kategorischen Imperativs nicht wollen kann. Schopenhauer kritisiert genau das. Er fordert eine Ethik, die das Tier unmittelbar und nicht mittelbar erfasst. Zugleich war Schopenhauer bekanntermaßen Misanthrop. Fast scheint es, als fiele unsere Sympathie stets dem einen oder dem anderen zu: dem Tier oder dem Menschen.

Je ähnlicher uns das Tier ist, desto schwieriger lässt sich das menschliche Vorrecht auf Gebrauch des Tieres als Mittel zum Zweck – als Nahrungs- oder Unterhaltungsmittel – rechtfertigen. Auf seltsame Art erscheint die Trauer um Harambe als Trostpflaster für uns: Beruhigt sie doch unser Gewissen, während wir uns fröhlich Schnitzel auf den Teller laden. Die eigentliche Kritik müsste deshalb nicht dem Todesschuss zur Rettung des Kindes gelten. Vielmehr müssten wir uns die Frage stellen, inwieweit die Tierhaltung in Zoos, die fraglos unserer Unterhaltung und nicht dem Artenschutz dient, unethisch ist.

„Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe / und hinter tausend Stäben keine Welt.“

Spätestens seit Rilkes Zeilen aus "Der Panther" ist die anmutige Natur, die sich, hinter Gitter gepfercht, im Kreise dreht, Ausdruck von Anmut und Verzweiflung gleichermaßen. Das Tier ist uns hier zugleich Spiegel und offenbart die Dialektik von Wildheit und Gefangenschaft, die auchdie menschliche Existenz als Natur- und Kulturwesen reflektiert. Und die alte Frage, ob unsere Grausamkeit und unsere Rücksichtslosigkeit Teil unserer Natur oder Kultur sind. Aber diese Unterscheidung selbst ist nur Produkt unserer Kultur.

Offenkundig dient das Tier als Projektionsfläche für alles Gute, das wir gerne in uns sehen würden und bisweilen auch sehen. Die „Schuldigen“ aber – die Eltern des Kindes - führen uns die Funktion des Sündenbocks vor Augen. Am liebsten sollen die Eltern - gemäß der Wünsche des Internetmobs - vor Gericht gestellt werden. Denn diese hätten ihre Aufsichtspflicht verletzt. Man fragt sich, ob der Mob so gnadenlos über weiße Eltern urteilen würde. Wer jetzt behauptet, all das habe mit „Rasse“, und Hautfarbe nichts zu tun, der führe sich vor Augen, dass im selben Zeitraum, in der die Netzgemeinde das Ableben eines Gorillas betrauerte, hunderte Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ums Leben kamen. Die menschliche Empathie hat enge Grenzen. Hier, so scheint es, kehrt sich das Gefühl der Ähnlichkeit, das uns mit dem Gorilla verbindet, auf paradoxe Weise in absolute Differenz um: Man hört keine Empörungsstürme von Weißen im Netz, wenn ein schwarzer Teenager in einer weißen Vorstadt erschossen wird. Oder ein dunkelhäutiges Kind ertrinkt.

So bewahrheitet sich in gewisser Weise jener Anfangsverdacht, wonach das Tier der bessere Mensch wäre. Nicht, weil es moralischer handelt. Es kennt ja keine Moral. Aber damit auch keine Doppelmoral.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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