Die Bunte Republik Neustadt, von Einheimischen BRN genannt, war immer stolz darauf, offen zu sein und tolerant. Einer der Orte zu sein in Dresden, in denen man „anders“ sein kann – eine andere Hautfarbe haben oder händchenhaltend mit dem gleichgeschlechtlichen Partner spazieren gehen kann.
Einmal jährlich, seit nunmehr 25 Jahren, feiert das Viertel sich selbst in Form der Bunten Republik Neustadt, kurz BRN (oder sächsisch bääerrrn). Schon bald aber könnte es das Fest nicht mehr geben. Kaum war die BRN in diesem Juni zu Ende gegangen, da wurde ihr mögliches Aus verkündet. Die Organisatoren selbst schlugen vor, das Fest, das inzwischen 100.000 Besucher anzieht, 2016 ausfallen zu lassen. Längst habe der Kommerz die BRN vereinnahmt.
Die Dresdner Neustadt grenzt direkt an die Altstadt und hat im Gegensatz zu dieser den Zweiten Weltkrieg praktisch unbeschadet überstanden. Trotz Wohnungsmangels ließ die Stadt die bourgeoisen Altbauten im real existierenden Sozialismus verfallen, sie sollten Neubauten Platz machen. Aber die Bewohner, Alternative und Künstler, leisteten auf ihrer Insel Widerstand. Nach der Wende wurden die Altbauten gerettet, doch jetzt drohte wiederum eine andere Gefahr: Westinvestoren. Kurz nachdem die Zukunft und damit das Ende der DDR in Berlin am berühmten runden Tisch verhandelt worden war, schuf sich die Dresdner Neustadt ihren eigenen runden Tisch.
Bier und Bratwurst
Dort, in der „Schwafelrunde“, wurde zum ersten Mal das Stadtteilfest BRN organisiert. Und die Schwafelrunde, eine Gruppe von Bürgern, Ehrenamtlichen, Lokalinhabern, veranstaltet es bis heute. Mit eigener Flagge, eigenem Zahlungsmittel und Pass lebt die Bunte Republik einmal im Jahr ihre Utopie von einem Staat im Staat mit einem Souverän, dem Volk. Die BRN war Aufbruch und auch Widerstand gegen die Wendeeuphorie. Sie endete für viele, als klar wurde, dass die DDR an den Westen verkauft wurde. Die provisorische BRN-„Regierung“ aus dem Jahr 1991 proklamierte, dass Banken und Politiker den Bewohnern den Spaß am Leben nicht nehmen könnten. Sie verkündete, „dass es noch Leute gibt, die von einer freien, solidarischen und gerechten Welt träumen“. Die BRN wollte ein Zeichen setzen „für eine Welt ohne Umweltverschmutzung und Konsumwahn“. In diesem Jahr produzierte sie 70 Tonnen Müll. Und sie ist längst durchkommerzialisiert. Lokalinhaber setzen fest auf die Umsätze, die ihnen das Fest mit seinen zigtausenden Besuchern beschert. Je mehr Flächen von Bierständen und Würstchenbuden okkupiert werden, desto weniger Raum bleibt für Bands und Kunst. Doch erst als sie friedlich wurde, konnte die BRN zu einer Massenveranstaltung werden.
Bis in die Nullerjahre hinein lieferten sich Rechte und Linke Straßenschlachten in den Nächten. So wurde man politisiert, zumal als Jugendlicher, man hasste Nazis und Polizisten, all cops are bastards, den Beat dazu lieferten die Punkbands. Seit einigen Jahren bleibt Randale aber aus, die rechte Szene hat ihre Strategie längst geändert, aus Brandstiftern sind braune Biedermänner geworden, die Fackelzüge durch die Stadt veranstalten. Die Punks wurden von Familien mit Kinderwagen verdrängt, Endfünfzigern, die sich noch einmal jung fühlen wollen, und solchen, die zu Dubstep im nächtlichen Gedränge tanzen. Manchmal mischen sich inzwischen sogar die Edelbewohner vom Weißen Hirschen unter die Menge. Kann die provisorische Regierung ihren Bürgern das Feiern im Geist der Freiheit überhaupt verbieten, ohne diktatorisch zu werden?
15 Jahre lang habe ich in der Neustadt gelebt, ich kenne dort jedes Gesicht und jeden Backstein. Als ich im Jahr 2000 nach Dresden kam, gab es nur einen Platz für mich, ebendieses Viertel. Nie gefährlich oder zu versifft, Dresden war im Verhältnis zu anderen Städten auch in der Szene ordentlich kleinbürgerlich. Doch es gab eine Subkultur, kaum renovierte Altbauwohnungen mit großen Gärten und Balkonen und kleinen Mieten. Dann geschah das, was die meisten kreativen und billigen Orte erleben: Die Neustadt wurde teurer. Schon als ich vor acht Jahren mit meinem Studium begann, konnte man sie sich eigentlich nicht mehr leisten.
Wie heißt das Zauberwort?
Ähnlich wie in Berlin-Prenzlauer Berg wurde auch in der Dresdner Neustadt in den vergangenen 15 Jahren die Bevölkerung gründlich ausgetauscht. Man findet nun auch hier den üblichen Biosupermarkt, er hat sich von einer kleinen Klitsche zu einem schicken Rewe-Imitat gewandelt. Der vietnamesische Bekleidungsladen gegenüber des Programmkinos Schauburg, der noch Großmutters Kittelschürzen im Sortiment hatte, musste einer Bar weichen, die irgendwas mit Dinkel oder Bärlauch anbietet. Es gibt zwar noch ein paar ernsthaft alternative Läden, aber die Debatten, die um das Viertel toben, kann man mit dem einen Zauberwort beschreiben: Gentrifizierung.
„Ich war schon da, bevor es cool war“, sagt der Neustädter, der die Distinktion sucht. Seltsam gestrig klingt das, als müssten die, die immer noch dort leben, den Mythos jener Anarchohochburg für das eigene Gefühlsleben aufrechterhalten. Womöglich plagt sie ihr schlechtes Gewissen, weil sie die Mieten noch bezahlen können, während die anderen den Stadtteil längst verlassen haben. Man geriert sich als Bollwerk gegen den Kommerz und toleriert ihn gleichzeitig. Ein bisschen Anarchie darf sein, aber bitte kein Lärm und Müll.
Die Bürger der Neustadt möchten wie so viele Dresdner bewahren und restaurieren. In anderen Städten zieht die kreative Karawane weiter, hier zieht man sich lieber ganz zurück.
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