Implantierter Chip

Thriller Zoë Becks „Paradise City“ beschreibt ein Land, das sich dem Gesundheitsterror verschrieben hat
Ausgabe 37/2020
Das Unheil wurzelt im Guten. Oder im gut Gemeinten
Das Unheil wurzelt im Guten. Oder im gut Gemeinten

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Alles könnte so schön sein: Der lästige Individualverkehr ist eine Sache der Vergangenheit. Kein privater PKW verpestet mehr die Luft, die Menschen sind gesund wie nie. Nicht nur wegen der besseren Luft. Die Software KOS gleicht ständig die von einem in den Körper implantierten Chip empfangenen Daten mit Behandlungsplänen und allgemeinen Gesundheitsdatensätzen ab. Sie überwacht die Einnahme von Medikamenten, gibt Empfehlungen, was man zu tun oder zu lassen hat. Freilich mussten die Menschen für diese paradiesischen Zustände einen gewissen Preis zahlen. Erst raffte ein Masernvirus in den 2030er Jahren unzählige Menschen hinweg. Und dann der Klimawandel! Große Teile des Landes – vor allem Norddeutschland – wurden überflutet, die Hauptstadt Berlin wurde aufgegeben, das Leben konzentriert sich in der Megacity Frankfurt.

In ihrem Thriller Paradise City schickt Zoë Beck ihre Protagonistin Liina, Anfang 30, für einen Recherche-Auftrag in die Uckermark, ein Gebiet, in dem nur wenige Menschen und Wölfe leben (gar nicht so anders als heute, möchte man sagen). Hier wurde eine Frau von wilden Tieren, angeblich Schakalen, zu Tode gebissen. Eine an den Haaren herbeigezogene Geschichte, wie Liina glaubt. Leicht als Fake News zu entlarven. Es kommt nicht selten vor, dass die Staatsmedien Storys dieser Art streuen. Liina recherchiert im Auftrag von Gallus, einer Agentur, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die staatlich fabrizierten Fake News zu entlarven. Aber warum hat Yassin, Gallus-Gründer und obendrein Liinas Geliebter, sie ausgerechnet hierher geschickt?

Natürlich ergeben sich neue Verwicklungen, so gehört es sich für einen Thriller. Die zuständige Ärztin hat die Leiche nie zu Gesicht bekommen. Deren Gewebeproben verschwinden. Nur eines erfährt Liina: Die Tote nahm ein Antidepressivum, das längst nicht mehr auf dem Markt ist. Außerdem wurde ihr der Gesundheitschip entfernt. Zurück in Frankfurt, wird Liina von dem Fall abgezogen: Yassin liegt im Krankenhaus, angeblich hat er sich vor einen Zug geworfen. Mehrere Videos zeigen den Vorfall, es ist kein Fremdeinwirken zu sehen. Aber warum sollte Yassin so etwas tun? Mehr Fragen tauchen auf, denn Personen in der Umgebung des Bahnsteigs scheinen durch Software unkenntlich gemacht zu sein. Handelt es sich um eine staatliche Software?

Gemeinsam mit Gallus-Gründerin Özlem und der Hackerin Olga muss Liina schnell Antworten finden. Denn schon bald rückt auch ihr Körper ins Zentrum des Plots. Liina ist ganz besonders abhängig von KOS, hat sie doch eine Herz-Transplantation hinter sich. Mehr und mehr Spuren führen in Liinas Vergangenheit, sie alle verknoten sich in der Gestalt einer alten Bekannten.

Keiner stirbt mehr an Krebs

Beck erzählt rasant und, wie es sich für das Genre gehört, in allerhand Zeit- und Handlungssprüngen. Soll man Paradise City als Dystopie bezeichnen? Tatsächlich fügen sich die Menschen gerne der Totalüberwachung. Chronische Krankheiten gibt es nicht mehr, niemand stirbt mehr an Krebs oder Herzinfarkt. Und vielleicht muss man sich die neuen (digitalen) Totalitarismen genau so denken: als freiwillige Hingabe an einen fürsorglichen Staat.

Eine Pointe des Romans ist, dass der Gesundheitsterror in einer Gesellschaft stattfindet, in der Frauen und Migranten an wichtigen Hebeln sitzen. Die zweite Pointe versteckt sich zwischen den Seiten. Eigentlich ist ein Thriller Verschwörungstheorien gar nicht so unähnlich. Die sind deshalb so erfolgreich, weil sie komplexes Geschehen schlüssig verdichten. Dasselbe gilt für den Thriller. Keine Figur wird zufällig eingeführt. Das gilt auch für die zahlreichen Figuren aus Liinas Vergangenheit: Martha, die sich dem Gesundheitsterror nicht beugen will, und die alte Freundin Simona, die es bis ins Amt der Gesundheitsministerin geschafft hat. Paradise City verleiht dem Genre des Thrillers einen schönen Twist. Das Unheil wurzelt im Guten. Es braucht keine Männernetzwerke, um die Welt ins Unheil zu stürzen. „Was will man erzielen? Die perfekte Gesellschaft.“ Aber was, wenn auch sie einen grausamen Haken hat?

Info

Paradise City Zoë Beck Suhrkamp 2020, 280 S., 16 €

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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