Man darf sich Sigmund Freud als glücklichen Reisenden vorstellen. Jedenfalls an jenen Tagen, an denen er auf den Spuren anderer Geistesgrößen durch die Straßen von Florenz, Ravenna und nicht zuletzt des geliebten Roms streift. Jörg-Dieter Kogel hat mit Im Land der Träume ein Buch über die ausgeprägte Reiseleidenschaft des Erfinders der Psychoanalyse vorgelegt.
Dabei war Sigmund Freud nicht der geborene Reisende. Eine echte Reisephobie plagte ihn, er fuhr nicht gerne Zug. Einem viele hundert Tonnen wiegenden Stahlungetüm machtlos ausgeliefert zu sein – das behagte Ende des 19. Jahrhunderts noch immer nicht jedem Menschen. Freud befreite sich nur zögerlich von seiner Reiseangst. Was ihm hilft, ist sein Reisegenosse, sein viel jüngerer Halbbruder Alexander, obendrein ein Eisenbahnexperte.
Das Reisen hat einen weiteren Nachteil. Es verschlingt furchtbar viel Geld. Nicht, dass der Mediziner und später weltbekannte Nervenarzt sich ernsthaft Sorgen ums Geld hätte machen müssen, auch wenn der Haushalt mit sechs Kindern, Ehefrau, Schwägerin Minna und diversen Haus- und Dienstmädchen einiges verschlang. Immerhin verfügte der werte Herr Professor, der er aus seiner Sicht viel zu lange eben doch nicht war, über ein stolzes Jahreseinkommen von umgerechnet rund 180.000 Euro. Kein Wunder, empfing er doch beinahe rund um die Uhr Patienten, die ihm ihr Seelenleiden offenbarten. So hatte er sich den Urlaub redlich verdient, blieb nur die Suche nach einem geeigneten Reisegenossen. Ehefrau Martha ist ungeeignet, ihre berüchtigten Periodenbeschwerden schließen sie von solchen Unternehmen aus. Prädestiniert dagegen war Schwägerin Minna. Sie versüßte Freud so manchen Italienaufenthalt – was nicht wenig Anlass zu Gerüchten gab. Auch Freuds ehemaliger Kronprinz C. G. Jung streut sie, was nur beweist, dass auch die intelligentesten Männer zu Klatsch und Tratsch neigen. Sándor Ferenczi, beflissener Freud-Schüler, begleitete diesen ebenfalls, war dem Professor gegenüber aber zu servil. Freud bemerkt in einem Brief, dass seine homosexuelle Seite für so viel männliche Bewunderung nicht stark genug ausgeprägt sei. Viel angenehmer dagegen empfand er das Reisen mit Lieblingstochter Anna.
Freuds Reisewege, die Zugrouten und Hotelaufenthalte, legen eine Art Netz unter seine Werke. Die Traumorte werden zu Topoi in Träumen, sie enthüllen am Ende gar unbewusste Wünsche: Was hatte es beispielsweise mit der seltsamen Begebenheit auf sich, bei der Freud in einer italienischen Kleinstadt mehrmals unwillentlich (aha!) im Prostituiertenviertel der Stadt landete? Freud erzählt davon in seiner Schrift Das Unheimliche, verweigert seinen Lesern aber eine Deutung der Szene.
Dominiert wurde sein Reiseprogramm ansonsten von Kunst und Kultur. Freud begab sich auf die Spuren von Leonardo und Michelangelo. Gerade Rom, die Schatzkammer Italiens, wurde Freud zum Sehnsuchtsort, einem belasteten allerdings, den er erst spät besuchte. Er selbst wunderte sich über die offensichtlich neurotische Besetzung der Stadt. Hannibal schien ihm die Lösung: Auch er, der Heros aus Freuds Kindertagen, war ja an Rom gescheitert. Auch Freud, bereits auf dem Weg nach Rom, machte im letzten Moment kehrt. Rom war Freud die Stadt des Katholizismus, auch des Judenhasses, der sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in besinnungslosen Vernichtungswillen steigerte. Große Teile der Familie Freuds werden ihm zum Opfer fallen. Eine Italienreise ist nie nur eine Italienreise. Kulturgeschichtlich ist sie stets übercodiert, jedenfalls dann, wenn man aus dem deutschsprachigen Raum stammt. Nie geht es nur darum, den Petersdom, den schiefen Turm von Pisa oder die Laokoon-Gruppe in Augenschein zu nehmen. Vor allem möchte man sich vom Deutschsein selbst erholen. Der Wiener Freud war natürlich kein Deutscher, aber der deutsche Geist strahlte über die Grenzen ins Nachbarland aus. Neben Goethe gibt es noch eine andere deutsche Geistesgröße, die Italien bereiste, Nietzsche. Zwischen beiden deutschen Heroen und Freud gab es Brücken und Bindeglieder: Im Falle Nietzsches ist es Lou Andreas-Salomé, die Psychoanalytikerin und Freud-Schülerin, die Nietzsche einst in Rom traf, sie gar von einem anderen Stern auf den mythischen römischen Boden gefallen glaubte. Goethe wiederum war der Namensgeber des wichtigen Preises, der Freud 1930 verliehen wurde. Was lernen wir aus Kogels kurzweiligem und doch detailgesättigtem Buch? Wir sehen Freud als vergnügten älteren Herrn im flachen Wasser fischen – und als Intellektuellen, der sich hemmungslos seiner archäologischen Sammelleidenschaft widmet. Wir erleben ihn als zwanghaft gut vorbereitenden Reisenden, der Baedeker ist stets griffbereit.
Wir werden aber auch Zeuge, wie sich Freud selbst für Autoren zu einem Mythos entwickelt hat, der ganze Genre inspiriert. Freuds Dinge, Freuds Reisen, Freuds Schüler und seine Couch sind für die Exegese des Traumdeuters nicht weniger wichtig als seine Tischgesellschaften oder Patientenberichte. Der Psychoanalytiker, der seine Lehre aus deren Geschichten formte, ist der ideale Protagonist für immer neu erzählte Geschichten und triumphiert zuletzt über die schnöde Biografie.
Info
Im Land der Träume. Mit Sigmund Freud in Italien Jörg-Dieter Kogel Berlin 2019, 200 S., 22 €
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