Je suis scheiße

Nizza Attentate wie in Nizza erzeugen zugleich Furcht und Abstumpfung. Wie weit muss unser Mitleid mit den anderen gehen? Ist es unmoralisch, wenn wir nichts mehr fühlen?

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Ökonomie des Mitleids als Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit
Ökonomie des Mitleids als Ausdruck der eigenen Hilflosigkeit

Bild: Vasily Maximov/AFP/Getty Images

Wieder ein Anschlag. Wieder zahlreiche Tote. Wieder im Nachbarland Frankreich. Immer mehr Wut tritt neben das Gefühl der Traurigkeit. Wut über sinnlos vernichtete Menschenleben, Wut angesichts des blinden Hasses des Täters. Wut aber auch angesichts des französischen Präsidenten, dessen neuerliche Antwort auf den Terror zugleich eine alte ist: Mehr Militärschläge in Syrien. So, als hätte niemand verstanden, dass es nicht um ausländische Terroristen geht oder eine Agenda der anderen. Der Terror ist unter uns. Und so wie es aussieht, müssen wir uns daran gewöhnen.

Gewöhnung angesichts des Schreckens – das klingt bizarr, abgestumpft, irgendwie herzlos. Gestern noch las ich in der Zeit ein Interview mit Gerd Gigerenzer, Psychologe und „Experte für Furcht“. In dem Interview geht es um die Frage, warum wir vor Terror Angst haben, aber nicht vor der morgendlichen Fahrt zur Arbeit oder der jährlichen Fahrt in den Urlaub, obgleich die Wahrscheinlichkeit für tödliche Unfälle dabei um so vieles größer ist. Interessanterweise ist auch der Angstforscher ein wenig ratlos: Sicher scheint, dass Ereignisse, bei denen viele Menschen ums Leben kommen, größere Furcht in uns auslösen, als einzelne Todesfälle.

Experten für Furcht, im Grunde sind wir das alle. Egal wie gut oder schlecht wir sie erklären können, wir kennen das plötzliche Gefühl der Furcht am Flughafen, wenn ein finster dreinblickender, dunkelhäutiger Mann mit uns in einen Flieger steigen wird. Das ist nicht nur Klischee- oder Stereotyp, das ist fieser Rassismus, eine Furchtreaktion, die durch zahlreiche terroristische Szenarien geschult wurde. Angst muss nicht rational sein, man kommt ihr auch nicht mit rationalen Gedanken bei. Und wohl auch nicht mit Moral.

Und was ist mit dem Mitleid? Nach den Anschlägen in der Redaktion von Charlie Hebdo postete ich auf Facebook, wie unzählige andere meiner Freunde, die Worte „Je suis Charlie“. Ich war ehrlich betroffen, ehrlich verstört. Vielleicht gerade deshalb, weil es für mich als Schreibende einfach ungeheuerlich erscheint, dass jemand für ein geschriebenes Wort oder ein gezeichnetes Bild gezielt ermordet wird. Der Grad an Sinnlosigkeit der Tat gepaart mit dem verursachenden Hass erschreckte mich. Und die Betroffenheit war ehrlich. Schon kurze Zeit später konnte man zahlreiche Artikel und Social Media Posts lesen, die diese hilflose Form der Internetbetroffenheit wahlweise kritisierten oder sich sogar darüber empörten. Ja, natürlich ist ein Bild schnell gepostet, natürlich kann man sagen, dass der Grad der Betroffenheit nicht jenem entspricht, den wir erleben, wenn ein enger Verwandter oder Freund stirbt. Aber Hilflosigkeit, Trauer und Wut sind legitime Gefühle, und selbst der hilfloseste Versuch, sie auszudrücken, ist nicht lachhaft. Und schon gar nicht leere Pathosformel.

Andere Stimmen reagierten mit Bitterkeit: Zeitgleich sterben hunderte Menschen auf dem Mittelmeer, sterben tausende Menschen im Irak. Entführte Mädchen in Nigeria, Selbstmordattentate auf Märkten, ertrunkene Kinder: Warum, so fragten viele, macht uns das eine betroffen, während das andere uns kalt lässt? Immer schwingt ein Vorwurf mit: Das eine Leben liegt dir am Herzen, das andere nicht! But all lives matter. Ich verstehe den Vorwurf. Es ist, als ob wir unser Herz gegen einen Teil der Menschheit verschließen würden, den Teil, der auf der Südhalbkugel oder im mittleren Osten lebt, den Teil, der muslimisch geprägt ist oder dunkelhäutig.

Viele Philosophen und Psychologen haben sich dem Thema des Mitleidens und der Nächstenliebe gewidmet. Bei Schopenhauer und Erich Fromm gibt es die Forderung nach universalem Mitleid und universaler Nächstenliebe. Aber denkt man für einen Moment darüber nach, so ist die Forderung nach umfassenden Mitleid, wenn sie auch aus moralphilosophischer Sicht geboten sein mag, nicht einzulösen. Zu jedem Zeitpunkt mit sieben Milliarden Menschen mitfühlen zu können oder gar zu müssen, erscheint mir geradezu furchtbar. Vielleicht bin ich das, vielleicht bin ich furchtbar, vielleicht ist mein Herz verhärtet gegen die anderen. Je suis scheiße. Ja, vielleicht. Aber andererseits ist das vielleicht kein Ausdruck meiner Doppelmoral. Vielleicht ist es eine Ökonomie des Mitleids, ein Begriff, zugegebenermaßen, der gleichsam furchtbar klingt.

Vor zweihundert Jahren wären Neuigkeit vom afrikanischen Kontinent oder dem mittleren Osten nur mit geringer Wahrscheinlichkeit zu mir gelangt, vielleicht als Teil einer Reportage aus exotischen, kolonialisierten Ländern, vielleicht als Bericht über einen Kolonialkrieg. Nahe gefühlt hätte ich mich diesen Ereignissen wohl nicht. Heute, angesichts von „Live Tickern“ zu Terroranschlägen, erscheinen Paris und Ankara wie ein Steinwurf entfernt, sie sind es medial und geografisch dank extrem kurzer Flugreisen. Das Ausmaß an Informationen über die Taten in Nizza und Ankara ist gewaltig; meine Möglichkeiten, etwas zu tun, mit der Angst und dem Hass umzugehen, sind aber begrenzt.

Immer häufiger erlebe ich – und wahrscheinlich geht es vielen so – dass ich neuerliche Anschläge nur noch „registriere“; je ferner sie sind oder je weniger sie mich zu betreffen scheinen, desto abgestumpfter reagiere ich. Nicht aufgrund von zu wenig Mitleid. All das ist Hilflosigkeit. Ich habe ganz bewusst wenig über das Attentat von Orlando gelesen. Und ich kann neuerliche Fälle von afroamerikanischen Jugendlichen, die von Polizisten erschossen werden, nicht mehr auseinanderhalten. Nochmal: Je suis scheiße.

Gerne würde ich das mit einer Art evolutionärem oder kulturellem Programm rechtfertigen, einem, das erklärt, warum wir mit den einen mitfühlen, mit den anderen aber nicht. Der Psychologe Nicholas Epley nennt unsere Fähigkeiten, uns in andere hineinzuversetzen und mit ihnen mitzufühlen, den „sechsten Sinn“:

„Wenn ein Mensch psychisch zu weit von uns entfernt ist – wenn er zu verschieden, zu fremd, zu anders ist -, wird unser sechster Sinn nicht aktiviert.“

(Nicholas Epley, Machen wir uns nichts vor!)

Dieser Umstand kann im schlimmsten Fall zu Entmenschlichung des anderen führen, was wiederum die Voraussetzung für Völkermorde und Kriege, Terrorismus und Attentate ist. Vielleicht ist das die obszöne Ironie der Geschichte: Das, was Attentate und Morde erst möglich macht – die ungeheure Distanz zwischen uns/ich und dem anderen, die dessen Entmenschlichung ermöglicht, lässt mich/viele von uns mit Abstumpfung auf den Tod der anderen reagieren. Auf psychologischer Ebene findet bei Tätern und uns, den Beobachtern, also etwas ganz Ähnliches statt. Diese Abstumpfung ist das eigentlich Unheimliche. Ist sie auch unvermeidbar? Ich habe keine Antwort.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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