Bisweilen kann ich mein Glück kaum fassen, vermutlich ist es beinahe unverschämt, das zu sagen: Ich lebe in einem Kinderbetreuungsparadies. Dieses Paradies nennt man den Osten, die Ex-Zone, wo heute kein Bürgermeister so schnell auf die Idee käme, die Nachmittagsbetreuung von Kindern zusammenzustreichen. Anders in Tübingen, wo Boris-ist-immer-für-smarte-Lösungen-zu-haben-Palmer (oder besser: seine Verwaltung) aufgrund von Erzieher:innenmangel die Nachmittagsbetreuung in Kitas abschaffte. Ich lese, dass das für viele Eltern bedeutet, dass die Betreuungszeit gegen 13.30 Uhr endet. Beinahe Schweizer Zustände sind das. Die Schweizer stecken ja, was Betreuungsfragen anbelangt, noch in den 1970er Jahren fest.
Zwar sah man vor einigen Jahren Bilder aus
ilder aus meiner Wahlheimat Leipzig, in der werdende Eltern sich vor einer neu eröffneten Kita die Beine in den runden Bauch standen. Aber im Großen und Ganzen klappt es mit der Kleinkindbetreuung. Sie erscheint geradezu sakrosankt, jedenfalls für im Osten sozialisierte Frauen und Männer. Unser Jüngster bekam seinen Krippenplatz mit zwölf Monaten. Das ermöglicht es meinem Partner und mir, jeweils sechs Stunden täglich zu arbeiten. Geldverdienen und Care-Arbeit erledigen wir paritätisch. Das setzt die tägliche Arbeit an der Verwirklichung dieses Ideals voraus, hat zudem strukturelle Vorbedingungen. Dazu gehört ein Mindset, das Gleichberechtigung nicht nur am Weltfrauentag einfordert oder gleich bei erstbester Gelegenheit den „Umständen“ opfert.Die Betreuung am Nachmittag sei ohnehin nicht ausgelastet, heißt es aus Tübingen, kaum ein Kind sei bis zum frühen Abend in der Kita. Mag schon sein, doch selbst als Nicht-Mathematikerin erschließt sich mir eine gewisse Differenz zwischen 13.30 Uhr und 17.30 Uhr. Man muss ebenso kein Genie sein, um zu kapieren, wer die reduzierten Kita-Öffnungszeiten „abfangen“ wird. Natürlich die Mütter, die mit ihrer hemdsärmeligen Art ja schon während der Corona-Zeit bewiesen haben, dass man zur Not mal ein paar Stunden eher aufstehen kann, um wichtige Arbeitsaufgaben zu erledigen.Aber was will man machen, wenn es nun einmal keine Erzieher gibt, die die Betreuung gewährleisten können? Das Problem beginnt offensichtlich da, wo Betreuungsplätze und -zeiten je nach Kassen- und Personallage ausgehandelt werden. Anstatt einen langfristigen Bedarf zu ermitteln und auf Basis dieses Bedarfs Stellen und Ausbildungsplätze zu schaffen (und diese sogar gut zu bezahlen). Noch vor zehn Jahren etwa schloss Leipzig Schulen, während ganz Sachsen reihenweise Referendare nach Bayern oder Niedersachsen ziehen ließ, die heute natürlich fehlen. Die Notlage heute kommt nicht aus dem Nichts, da sich immerhin schon sechs Jahre vor Schulbeginn künftige Schülerzahlen aus den Geburtenraten ablesen lassen und demografische Trends langfristig wirken. Zu diesen Trends zählt der Boom einiger Städte und Regionen. Mit einer Ausbildungsoffensive ließen sich immerhin binnen weniger Jahre gröbste Missstände beseitigen. Um jedoch auch Männer für den Beruf des Erziehers zu begeistern, muss endlich Schluss sein mit Gender-Stereotypen. Erzieher:innen sind keine Basteltanten und -onkels. Obendrein konkurrieren Arbeitgeber in den Bereichen Erziehung, Gesundheit und Pflege um dieselben potenziellen Azubis, tatsächlich müssten aber breitere Bewerberkreise erschlossen werden.Gut, vielleicht lassen sich Kinder und Eltern mittels Betreuungsmangel auf die Schulzeit einstimmen, die auf absehbare Zeit durch Unterrichtsausfall und fehlende Erzieher:innen für die Ganztagsbetreuung geprägt sein wird. Es fällt schwer, bei diesem Thema nicht zynisch zu werden. Das weiß ich von unzähligen Freunden, die als Lehrerinnen, Erzieher und Sozialarbeiter arbeiten. Zeit- und Ressourcenmangel, fehlende Anerkennung und schlechte Bezahlung, das Gefühl, die Kinder nicht adäquat betreuen zu können, sind Dauerprobleme. Wer nicht hinschmeißt, kündigt bisweilen innerlich. Wie meine Freundin, die an einer Problemschule als Erzieherin arbeitet. „Nicht in die Weichteile treten“ sei nunmehr das Einzige, was sie sage, wenn Schüler aneinandergeraten. Zeit, die komplexen sozialen Problemlagen hinter der Gewalt und den Beleidigungen zu bearbeiten, habe sie ohnehin nicht. Der Dauerstress wirkt sich auf das Betriebsklima aus. Kollegen arbeiten gegeneinander statt miteinander. Meine Freundin schaut sich daher nach einer neuen Stelle um.Das ist sicher ein Extremfall. Doch er zeigt eine weitere Ursache für den eklatanten Erzieher- und Lehrermangel: Grundlegende soziale Probleme, die auf politischer und gesellschaftlicher Ebene verhandelt werden müssten, landen letztlich im Kita- und Schulalltag. So fühlt sich Kita- und Schulpolitik für Arbeitnehmer:innen, Eltern und Kinder bisweilen wie ein Tritt in die Weichteile an. Da helfen keine Suspensorien und Trostpflaster. Zeit für wirklich smarte Lösungen.Placeholder authorbio-1