Kleine Professoren und schrullige Nerds

Autismus Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung sind gesellschaftliche Außenseiter. Und bisweilen witzige Sitcom-Charaktere. Der Welt-Autismus-Tag richtet den Blick auf Inklusion

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Am 2. April ist der Internationale Autismus-Tag, dessen Ziel es ist, Aufmerksamkeit für Autismus und Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zu erzeugen. Zu den ASS gehören frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus sowie das Asperger Syndrom, das mittlerweile wohl die bekannteste ASS ist. Frühkindlicher Autismus wie auch das Asperger Syndrom sind angeborene Entwicklungsstörungen; im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus macht sich Aspergers aber häufig erst im Kindergartenalter bemerkbar. Im Kindergarten fällt es eher auf, wenn es einem Kind nicht gelingt, mit Gleichaltrigen zu interagieren. Zumal die Überforderung eines Kindes mit Asperger Syndrom angesichts der Lautstärke in einem Raum voller Kinder mit schnell wechselnden Eindrücken besonders deutlich zu Tage tritt. Neben den Auffälligkeiten im Sozialverhalten sind die sogenannten „Inselbegabungen“ die auffälligsten Eigenschaften von Menschen mit Asperger Syndrom.

Aber braucht es eigentlich einen „World Autism Awareness Day“? Gibt es nicht mittlerweile unzählige Charaktere in Sitcoms, Filmen und Serien, die uns die faszinierenden und abweichenden Verhaltensweisen von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung näherbringen? Man denke nur an Sheldon Cooper in „The Big Bang Theory“: Meist handelt es sich bei den TV-Gestalten um kautzige Nerds mit seltsamem Habitus. Dass Menschen mit Aspergers als wunderliche kleine Genies imaginiert werden, die im Zweifelsfall urkomisch sind, hilft den Betroffenen wenig. Handelt es sich doch um ein romantisierendes Bild: Nicht jeder Mensch mit Aspergers kann von seinen Inselbegabungen profitieren. Die Welt da draußen kann mit Menschen, die Telefonbücher auswendig lernen, aber ihre Schuhe nicht zubinden können, nur wenig anfangen.

Zwar hilft es, dass „Aspergers“ immer mehr Menschen ein Begriff ist. Aber die Probleme, mit denen Menschen mit Autismus in der Welt der „Normalen“ konfrontiert sind, bleiben davon unberührt. Denn trotz normaler bis überdurchschnittlicher Intelligenz scheitern Menschen mit Aspergers in Schule und Arbeitsleben überproportional häufig. Das ist ein Problem für unsere Gesellschaft, aber in erster Linie eine Tragik für die Betroffenen.

Aspergers ist selten komisch

Aspergers ist selten so urkomisch wie es in Sitcoms erscheint, schon gar nicht, wenn das eigene Kind damit diagnostiziert wird. Vor zwei Jahren bekam ich es Schwarz auf Weiß: Asperger Syndrom. Auf einmal schoben sich die Buchstaben vor das Bild meines Kindes. Da war sie: eine Diagnose für ein Kind, das vollkommen normal aussieht, sich aber im Laufe der Jahre, die der Diagnose vorausgingen, immer weniger „normal“ verhielt.

Am Anfang war da ein ganz normaler kleiner Junge. Ein Kind, das sehr früh sprechen lernte, ein Kind, das mit zwei Jahren über einen weit überdurchschnittlichen Wortschatz verfügte und grammatikalische Strukturen verwendete, wie sie mancher Grundschüler nicht beherrscht. Ein Kind, das sich stundenlang ruhig mit Gegenständen beschäftigen konnte. Dann eine schleichende Veränderung. Weniger Wörter, eine extrem langsame Sprechweise, als müsse er jedes Wort abwägen. Sprachfehler. „Ganz normal“, sagte die Erzieherin im Kindergarten. „Das verliert sich meist von allein. Sie müssen nur deutlich mit ihm sprechen.“ Aber die sprachlichen Auffälligkeiten wurden mehr. Und andere Auffälligkeiten kamen hinzu. Tics zum Beispiel. Tics, wie sie ähnlich auch bei Tourette auftreten. Zuckungen im Gesicht, manchmal Energiestöße, die von den Beinen durch den Oberkörper bis in den Kopf liefen. Eine seltsam verzerrte Mimik, das Zurückwerfen des Kopfes. Ständiges Verdrehen der Finger, stereotype Bewegungen.

Und dann das abweichende Verhalten: Mein Sohn konnte nicht spielen. Rollenspiele interessierten ihn nicht nur nicht; sie machten ihn wütend, frustrierten ihn. Die Erzieherinnen schienen besorgt über den Mangel an sozialer Interaktion und darüber, dass er weder Freude noch Trauer offenbarte. Und während mein Sohn im Kindergarten überhaupt keine Emotionen offenbarte, brachen sie zu Hause nur so aus ihm heraus. Manchmal wurde er so wütend, dass er seinen Kopf gegen den Boden schlug. Auf seine Weinkrämpfe folgten meine.

Ich fühlte, dass ganz bestimmt ich schuld sein musste. Dass ich wohl eine schlechte Mutter sei. Und all die bösen Blicke von Passanten und Verwandten und meinem Partner, wenn das Kind mal wieder einen furchtbaren Anfall bekam aus nichtigem Anlass, bestärkten dieses Gefühl. So viele gute Ratschläge. „Du musst nur konsequenter sein!“ Aber dann war da dieser Gedanke in meinem Kopf: „Ich mag nicht perfekt sein. Aber ich kann unmöglich der Grund sein für dieses Verhalten.“ Ich wälzte Erziehungsratgeber. Einer empfahl bei aufsässigem Verhalten des Kindes „Festhalten“ – das Kind also fest in die Arme zu schließen bis es sich beruhigt. Damit es Wärme und Geborgenheit spürt. Aber das Festhalten führte zu furchtbaren Ausrastern mit Beißen und Kratzen. Einer der Versuche änderte mit blutenden Kratzwunden an meinen Armen.

Die Diagnose Schwarz auf Weiß

Irgendwann tauchte der Begriff Aspergers auf. Erst nur in meinem Kopf. Ich kannte das Syndrom. Und die Spezialwissensgebiete, die mein Sohn inzwischen entwickelt hatte, bestärkten das Gefühl, dass es sich um Aspergers handeln könnte. Aber ich wollte keine Diagnose für eine „Störung“, die nicht einfach verschwindet, die sich nicht therapieren lässt. Wenn ich das Problem wäre, dann könnte ich mein Verhalten ändern, so schmerzhaft das Gefühl des Versagens auch sein möge. Also versuchte ich weiter, eine bessere Mutter zu werden. Dann kam mein Kind in die Schule. Kurz nach Schuljahresbeginn wurde ich in die Schule einbestellt: „Das Kind ist im Unterricht nicht ansprechbar. Er driftet in seine eigene Welt ab.“ Mir wurde ein Besuch beim Psychologen nahegelegt. Es folgte: Monatelanges Warten auf einen Termin in der Sozialpädiatrie, Fragebögen, IQ Test, noch mehr Tests, Gespräche, noch mehr Fragebögen, die von der Krankheitsgeschichte der Großeltern bis zum Geburtsgewicht des Kindes jedes Lebensdetail erfragen. Und dann die Diagnose: Eine Kombination von Aspergers und ADS. Nicht ungewöhnlich. Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ohne Hyperaktivität) heißt keineswegs, dass mein Kind nicht aufmerksam wäre, im Gegenteil: Eindrücke und Erfahrungen überströmen sein Gehirn, permanent. Sein Gehirn verfügt über keinen geeigneten Filter. Ein volles Klassenzimmer mit lärmenden Kindern, ein öffentlicher Ort mit viel Trubel – alles potenzielle Auslöser für einen Rückzug in sich, oder schlimmer: für einen Schreikrampf.

Wieder wälzte ich Ratgeber. Nun auf der Suche nach Hilfe für mein Kind und mich. Ich las Erfahrungsberichte. Versuchte, das Denken und Erleben meines Kindes zu verstehen. In den ersten Wochen verstärkt sich ein Gefühl: Das Gefühl, dass er mir fremd ist und immer fremd bleiben wird. Das machte mir Angst. Aber dann änderte sich meine Wahrnehmung. Ich begann, ihm genau dabei zuzuhören, wenn er mir davon erzählte, welche Farben und Zahlen miteinander verbunden sind und warum manche von ihnen extreme Abneigung erzeugen (solche Idiosynkrasien kommen häufig vor bei Menschen mit Aspergers). Ich verstand schließlich, dass er einfach keine gelben Lebensmittel zu sich nehmen konnte. Und mehr noch: Ich verstand plötzlich, dass seine Logik eine andere war und ist und auch mir eine andere Welt eröffnet – und warum wäre sie falsch verglichen zu meiner Logik oder der, der meisten Menschen?

Ich weiß, dass es nach einer Form der Idealisierung klingt, aber ich bin fest davon überzeugt, dass diese Art des Denkens faszinierende neue Erkenntnisse hervorbringt. Was keineswegs bedeutet, dass jeder Mensch mit Aspergers ein kleines Genie ist, das demnächst bahnbrechende Entdeckungen in Physik oder Biologie machen wird. Die meisten Menschen mit Aspergers haben einen normalen IQ oder erreichen in bestimmten Teilbereichen hohe Werte. Sie entsprechen nicht dem Klischee der Sheldon Coopers in Filmen und Serien. Und trotzdem werfen sie die wichtige Frage auf, wie viel Abweichung wir ertragen können. Hans Asperger, der österreichische Kinderarzt, der das Syndrom zuerst beschrieb, bezeichnete jene beschriebenen Kinder als „kleine Professoren“. Er richtete früh den Blick auf die Potenziale jener Kinder und auf das, was sie uns lehren können.

Von Aufmerksamkeit zur Inklusion

Der Welt-Autismus-Tag wirft genau diese Frage auf: Wie kann unsere Gesellschaft mit der Abweichung umgehen? Wie viel Abweichung von „normalem“ Verhalten können wir zulassen und ertragen? Machen wir Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit ASS Zugeständnisse? Und wie kann Inklusion gelingen?

Als ich die Diagnose hatte, dachte ich, dass das Schlimmste schon bald überstanden sei. Dass die Schule Verständnis hätte für mein Kind, Hilfe anbieten könnte. Aber das Gegenteil geschah. Die Schule nahm die Diagnose zum Anlass, den Besuch einer Sonderschule zu empfehlen, obwohl mein Kind normal intelligent ist. Meine Traurigkeit wich Wut und Empörung. Wenn Integration an Menschen mit Aspergers, die weder geistig noch körperlich behindert sind, scheitert, dann scheitert Inklusion insgesamt. Man könne eben nicht für jedes Kind Extrawürste anbieten, hieß es in der Schule. Das ist eine bequeme Position für die Schule, aber für den Betroffenen letztlich eine Tatsache, die das gesamte weitere Leben beeinflussen wird.

Wenn Inklusion scheitert, dann erscheint es meist so, als liege es an mangelnden Ressourcen oder an fehlendem Personal. In unserem Fall aber stand am Anfang der mangelnde Wille, überhaupt nach Möglichkeiten zur Verbesserung des Schulalltages für ein Kind zu streben. Im Falle meines Sohnes kostest es kein Geld, braucht nicht einmal zusätzliche Lehrkräfte, nur minimale Veränderungen im Alltag, die auch anderen Kindern mit Lern- und Entwicklungsauffälligkeiten, deren Zahl massiv zugenommen hat, zu Gute kommen würden: Ein Ruheraum mit Rückzugsmöglichkeiten, für wenige Minuten nur. Oder die bessere Strukturierung von Tests und Aufgaben, die übersichtlichere Gestaltung von Arbeitsblättern etc. Und das berührt nur die Welt der Schule. Die Welt „da draußen“ birgt für Menschen mit ASS weit größere Herausforderungen.

In Großbritannien gibt es mittlerweile zum Beispiel Kinovorführungen für Menschen mit Autismus Spektrum-Störung. Mit reduzierter Lautstärke, freier Platzwahl und der Möglichkeit, sich in Ruheräume zurückzuziehen. Das sind Kleinigkeiten und Zusatzangebote, die keinem „normalen“ Menschen den Spaß verderben, für Menschen mit ASS aber eine große Steigerung der Lebensqualität bedeuten. Sie sind nur ein kleines Beispiel für mehr Aufmerksamkeit und Inklusion. Hoffentlich bald auch in Deutschland.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden