Lernen auf der Baustelle

Bildung Unsere Kolumnistin findet endlich einen Schulplatz. Aber Obacht, warnen Bekannte: Es droht „Klientel“. Und saniert wird im laufenden Betrieb
Ausgabe 41/2021
Reicht ja nicht, dass die Schule für manchen ohnehin schon eine Zumutung darstellt. Nun finden Sanierungs- und Abbrucharbeiten auch noch im laufenden Betrieb statt
Reicht ja nicht, dass die Schule für manchen ohnehin schon eine Zumutung darstellt. Nun finden Sanierungs- und Abbrucharbeiten auch noch im laufenden Betrieb statt

Foto: spfimages/IMAGO

Als ich vor zweieinhalb Jahren nach Leipzig zog, sorgte ich mich primär darum, wie ich in der boomenden Stadt eine Wohnung finden sollte. Dass eine andere Aufgabe viel schwieriger werden würde, hatte ich dagegen nicht auf der Rechnung: Ich fand einfach keine Schule für meinen Sohn. Schließlich erklärte sich doch eine Schule in einem entfernten Stadtteil bereit, ihn aufzunehmen. Das bedeutete zwar einen Schulweg von knapp 45 Minuten, aber immerhin: Der Schulplatz war uns sicher.

Bekannte zeigten sich über die Schulauswahl allerdings besorgt. Es gäbe da ja „Klientel“. Das Wort macht mich fuchtig. Es ist die nur scheinbar höfliche, tatsächlich verlogene Umschreibung eines anderen Begriffs: „Asoziale“. Das sagt man nicht, das weiß doch jeder. Man sagt „Klientel“, wenn man Menschen meint, die arbeitslos sind oder alleinerziehend oder geringverdienend, wenn man frisch Zugewanderte meint, Kinder, deren Eltern kein Deutsch können, oder Eltern, deren Alltag von multiplen Problemen beherrscht wird und die sich deshalb nicht in dem Maß um ihre Kinder kümmern können, wie wir Double-Income-Akademikerpärchen das für richtig und notwendig halten.

Neulich jedenfalls entdeckte ich die Erin Brockovich in mir, als ein politischer Beschluss die ohnehin nicht unkomplizierte Schulsituation für Schüler und Lehrer zu verschlimmern drohte. Auf die gute Nachricht, dass das marode, 100 Jahre alte Schulhaus mit erheblichen Brandschutzmängeln endlich saniert würde, folgte die schockierende Einsicht, dass die nötigen Abbruch- und Sanierungsarbeiten im laufenden Betrieb erfolgen müssten. Dass also Schüler mit Lernschwächen und erheblichen sozialen, oft auch emotionalen Problemen für insgesamt fünf Jahre auf einer Baustelle lernen würden. Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz ging es hier auch um eine Klassenfrage: Würde man dieselbe prekäre Baustellenbeschulung Gymnasiasten in einem wohlhabenderen Bezirk zumuten?

Eine eilig zusammengerufene Koalition aus Vertretern der Stadt, des Schulamtes und des Architekturbüros sollte den Eltern die unzumutbare Situation schmackhaft machen. Ein Schulbau als Happening. Vielleicht könnten die Schüler den Bauzaun streichen? (Ist es das, was Beuys mit „Sozialer Plastik“ meinte?) Jeder wolle das Beste fürs eigene Kind, aber man dürfe nicht egozentrisch sein: Es gehe ja um das größere Ganze. Die Reise in einen Urlaub sei bisweilen auch etwas anstrengend, aber am Ende stehe der Genuss. Die Kinder, die die Bauzeit erdulden, kommen natürlich gar nicht in den Genuss eines neuen Schulhauses. Nicht minder zynisch schien die Bemerkung, es könnten abwechselnd unterschiedliche Schülergruppen ausgelagert werden, so verteile sich das Leid auf alle Schüler gleichermaßen. Diese Idee habe doch ihren Charme. Oder etwa nicht?

Das mit der Gerechtigkeit hatte ich mir anders vorgestellt. Aber man hatte den Eltern ohnehin den Wind aus den Segeln genommen: Entweder man saniere jetzt, im Betrieb. Oder eben in zwölf Jahren. Wollt ihr also die totale Sanierung? Die Sache ist alternativlos. Alternativlosigkeit aber ist der Tod der Politik. Just jener Politik, die so tut, als schössen Schüler unvermittelt wie Pilze aus dem Mutterboden, so als ließen sich künftige Schülerzahlen nicht anhand von Geburtenzahlen und durchschnittlichem Zuzug prognostizieren. Klagen wir sonst über die mangelnde Digitalisierung von Schulen, auch über mangelnde Lehrkräfte, geht es hier um das ganz Grundlegende, Materielle: ein Dach, das dicht ist. Rohre, die Wasser leiten. Schüler, Lehrer, Eltern müssen ausbaden, was unterlassenes politisches Handeln verursacht hat. I would prefer not to.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

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