Meine Mutter war nie SED-Mitglied und genoss trotzdem das Leben in der DDR
Meinung Dirk Oschmanns „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ wurde noch auf übliche Weise eingehegt, bei Katja Hoyers „Diesseits der Mauer“ toben die Kritiker. Der Diskurs über den Osten ist Produkt einer radikalen Ausblendung der Klassenfrage
Geschichte ist oft das, was sich ereignet, während man Wäsche wäscht, Toiletten putzt oder mit dem Schlauchboot durchs Wohnzimmer paddelt
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Erstaunlich, erstaunlich! Immer wenn man meint, die Ost-West-Debatten hätten sich endgültig erschöpft, alle Argumente und Ressentiments seien vorgebracht, folgt eine neue Runde. Derzeit heizen gleich zwei Bücher die Debatte an – Dirk Oschmanns Der Osten: eine westdeutsche Erfindung und Katja Hoyers Diesseits der Mauer, das eine neue Geschichte der DDR erzählen will. Wurde Oschmanns Buch noch auf die übliche Weise diskurstechnisch eingehegt, spucken Kritiker angesichts von Hoyers Buch Gift und Galle. Jedenfalls implizit wirft man ihr Geschichtsklitterung vor. Dabei geht es Hoyer darum, die eigentlich unfassbare Ambivalenz von „normalem Alltagsleben“ und Unfreiheit in einem politischen Zwangssystem erfahrbar zu machen.
Hoyer äußert die
malem Alltagsleben“ und Unfreiheit in einem politischen Zwangssystem erfahrbar zu machen.Hoyer äußert die Hoffnung, dass auf Basis des jahrzehntelangen Abstandes nun ein objektiveres Bild der DDR gezeichnet werden könne. Doch diese Hoffnung widerlegen die teils harschen Verrisse ihres Buches im Spiegel, in der taz und im Freitag. Ilko-Sascha Kowalczuk ergießt Hohn und Spott über die Historikerin, die er als recherchefaul und an Fakten wenig interessiert darstellt. Liest man den Text, gewinnt man nicht den Eindruck, dass hier ein Historiker auf sachlicher Ebene gegen den Text einer Historikerin argumentiert. Von Argumenten ad hominem bis zur Weigerung, auch nur eine Aussage Hoyers konkret zu zitieren, strotzt der Text nur so vor Arroganz. Zwischendurch vergisst man beinahe, dass Hoyer am renommierten King’s College London forscht und für Zeitungen wie die Washington Post schreibt.Frank Schöbel statt Wolf BiermannAuch Norbert F. Pötzl, der ein Buch über die DDR-Nachwehen geschrieben hat (Der Treuhand-Komplex) und darin nicht mit Ossi-Klischees geizt, empört sich über Hoyers Buch. Marko Martin wirft der Autorin in der taz gar eine „völlig unreflektierte Publikation“ vor. Kurzum, hier wird mit Mitteln breitbeiniger Männlichkeit um historische Deutungshoheit gerungen.Hoyer hat Zeitzeugen befragt, aber aus Sicht einiger Historikerkollegen nicht die richtigen. Zu Wort kommt eben nicht Wolf Biermann, sondern Frank Schöbel, dessen Weihnachten in Familie im Dezember in vielen Ost-Haushalten hoch und runter gespielt wird. Schöbel steht als Schlagersänger für Massenkultur.Woran Historiker scheiternWer heute an DDR-Massenkultur erinnert, gilt als hoffnungsloser Ostalgiker. Wie über die DDR zu denken und zu fühlen ist, das bestimmen Intellektuelle, Akademiker und Künstler, die Unfreiheit, Stillstand, Spießigkeit und die Zentrierung des DDR-Lebens um Arbeit und Betriebszugehörigkeit beklagen. Doch wie steht es mit den „einfachen Menschen“, deren Blick sich womöglich weniger auf abstrakte Freiheiten richtete, vielmehr fokussierte auf Gefühle wie Zugehörigkeit und Sicherheit? Hoyer tut nichts anderes, als zu zeigen, dass es Menschen gab, die tatsächlich an das System DDR glaubten, auch wenn sich die meisten nach Jahrzehnten der Erstarrung abwandten. Daneben gab es vermutlich viele, die meinten, die Politik im Großen und Ganzen ignorieren zu können. Politikverdrossenheit soll es auch in Demokratien geben.Der gesamte Diskurs über die DDR und „den Osten“ ist und bleibt das Produkt der radikalen Ausblendung der Klassenfrage in Bezug auf das System. Er ist zudem Ergebnis einer Expertokratie, die es Bürgern abspricht, selbst über kollektiv Erlebtes urteilen zu können. So scheitern die meisten Historiker und Soziologen daran, sich vorzustellen, dass Menschen mit ihrem Leben in der DDR hier und da sogar ganz glücklich sein konnten – schon deshalb, weil sie in der BRD zur selben Zeit das Leben nicht als freier, ihren Konsumstandard nicht als höher empfunden hätten. Eben weil sie einfache Arbeiter waren, die, wenn sie denn Reisefreiheit genossen hätten, nicht auf Kreuzfahrten gegangen wären. Vielleicht existierten Unfreiheit und Verfolgung außerhalb ihrer Welt und Wirklichkeit.Antikommunist und LumpenproletariatDie Klassenfrage in der Systemdebatte treibt mich auch deshalb um, weil sie in den Biografien meiner Eltern so klar aufscheint. Mein Vater war ein Systemgegner in der DDR, aber aus Gründen, die wir heute als „die falschen“ bezeichnen würden: Er war glühender Antikommunist und rechtsradikal. Der landwirtschaftliche Betrieb seines Vaters war enteignet worden, er selbst blieb Zeit seines Lebens ein ungelernter Arbeiter. Meine Mutter entstammte dem, was Karl Marx als „Lumpenproletariat“ bezeichnet hätte, für Zwecke des Klassenkampfes untauglich, da „arbeitsscheu“ und – jedenfalls in Person meines Großvaters – kleinkriminell.Meine Mutter war nie FDJ- oder SED-Mitglied. Trotzdem genoss sie das Leben in der DDR. Weil es einfach und konkret war, weil das System ihr, die in bitterer Armut aufgewachsen war, zu einem guten Lebensstandard verhalf.Ich habe mich immer gefragt, wie repräsentativ die Zufriedenheit meiner Mutter mit der Gesellschaft gewesen sein mag. Fest steht: Wahrnehmungen wie ihre sind nicht nachgefragt, weil sie als naiv, unpolitisch und unreflektiert gelten. Nur sind Menschen manchmal so, das sollten wir auch in Bezug auf die DDR anerkennen. Geschichte ist oft das, was sich ereignet, während man Wäsche wäscht oder Toiletten putzt. Das Leben muss weitergehen, selbst in einem System wie der DDR.