Ob er heimlich stolz auf sie war?

Roman Annie Ernaux erzählt, wie ihre Bildung sich zwischen sie und ihren Vater schob
Ausgabe 11/2019

Vaterbücher haben ihre Konjunkturen. Und manche Generationen haben einen größeren Abrechnungsbedarf als andere. Schwer vorzustellen zum Beispiel, dass ein Millennial in dreißig Jahren ein Buch über Leben und Sterben des Vaters schreibt (zugegeben: Édouard Louis hat es mit Wer hat meinen Vater umgebracht bereits jetzt getan). Annie Ernaux, geboren 1940, also Problemvatergeneration, hat mit Der Platz ein Vaterbuch geschrieben. Ein Buch über Liebe und Distanz, über einen geteilten Platz, auf dem sich ein unüberwindbarer Graben auftut: jener der Klassen- und Bildungsunterschiede.

Der Vater ist ein einfacher, ein „rechtschaffener“ Mann. Nie hat er höhere Schulbildung genossen, war Arbeiter, dann Inhaber eines kleinen Ladens in der Normandie. Er, der – vielleicht mit Recht – annimmt, dass die feinen, gebildeten Leute auf ihn herabblicken, hat eine kluge Tochter, die dank eines Stipendiums studieren kann. Lehramt, Literaturwissenschaft. Eine Mathelehrerin – das hätte er womöglich einsehen können, aber Literatur? Je weiter die Ausbildung der Tochter voranschreitet, je stärker sie den Habitus der Mitschüler und Mitstudenten inkorporiert, desto größer wird der Graben.

Ob der Vater heimlich stolz auf sie ist? Immerhin, sie ist eine Aufsteigerin. Tatsächlich ist Der Platz eine Geschichte über das, was Ernaux „an der Schwelle zur bürgerlichen Welt zurücklassen musste“. Vielleicht ist es die Unbefangenheit im Umgang mit den einfachen Eltern. Liest man dieses schmale, eindrucksvolle Buch, versteht man, warum Ernaux sich als „Ethnologin ihrer selbst“ bezeichnet. Es handelt sich um eine Annäherung an eine eigentlich vertraute und doch fremde Welt.

Dieses Fremdwerden des Eigenen und das Sich-Vertraut-Machen mit dem Fremden sind ja die zwei Modi der Ethnologie. Damit steht Ernaux in einer großen Tradition und schreibt zugleich die Antithese zu Simone de Beauvoirs Memoiren einer Tochter aus gutem Hause.

Die Selbsterkundung muss notwendig den Weg über den störrischen, bisweilen groben Vater, der alles stets wortwörtlich nimmt und keinen Sinn für Sprachwitz hat, nehmen. Im Gegensatz zur Mutter, die sich von Zeit zu Zeit vorwagt in die Welt der gehobenen Sprache und Bildung, und mit der Tochter gar eine Bibliothek aufsucht, bleibt der Vater der Welt des Bürgertums fremd.

Didier Eribon ist begeistert

Vielleicht muss man aus einfachen Verhältnissen stammen, um die Mischung aus Scham und Abscheu gegenüber gebildeten bürgerlichen Kreisen zu verstehen, die dieser Vater empfindet. „Hass und Unterwürfigkeit, Hass auf die eigene Unterwürfigkeit“, schreibt Ernaux ihm zu. Wer Pierre Bourdieus Die feinen Unterschiede gelesen hat, wird hier eine wunderbare literarische Verarbeitung der beschriebenen Distinktionsmerkmale lesen. Der Vater stammt aus einer ruralen, bitterarmen Welt, in der man Kindern gegen den chronischen Wurmbefall Knoblauch in den Hosenbund näht und in der das Freizeitvergnügen der Kinder darin besteht, Frösche mit Strohhalmen zum Platzen zu bringen. Vielleicht kann man ihm nicht verdenken, dass er das Stipendiatenleben der Tochter als Müßiggang betrachtet.

Und dann ist er tot. Just als Ernaux die Lehramtsprüfung besteht. Als wäre da kein Platz mehr für den Vater im Leben der Tochter. Dass dieses Buch, das in Frankreich bereits 1984 erschien, 2019 auf Deutsch erscheint, macht neugierig. Ist es Erinnerung an eine längst vergangene Welt der Klassenunterschiede des Frankreichs der 60er Jahre? Sind Aufsteigerkarrieren wie die Ernaux heute noch möglich? Spürbar wird ja nicht nur die Kluft der Klassen, auch jene zwischen Stadt- und Landbevölkerung, aber auch der Geschlechteraspekt, der Klassenunterschiede verstärkt: Sind Frauen anpassungsfähiger, fällt ihnen der Aufstieg leichter, neigen sie gar zu größerem Ehrgeiz? Kein Zufall, dass Didier Eribon, auch ein Romancier der Klassenbetrachtung, das Buch in höchsten Tönen lobt.

Am Schluss könnte man fragen, wie authentisch dieser Vater ist. Doch zum Glück ist Ernaux keine Journalistin. Die Echtheit der Autofiktion muss sie nicht belegen. Und Erfindungen würden weder Erkenntnisgewinn noch Lesegenuss schmälern.

Info

Der Platz Annie Ernaux Sonja Finck (Übers.), Bibliothek Suhrkamp 2019, 94 S., 18 €

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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