Kläger, Richter, Henker

Moralphilosophie Noch nie wurde sich so viel (fremd-)geschämt wie heute. Robert Pfaller fragt in seinem Buch „Zwei Enthüllungen über die Scham“ nach den Gründen
Ausgabe 25/2022
Eventuell hat diese Frau ihre Privilegien hinterfragt
Eventuell hat diese Frau ihre Privilegien hinterfragt

Foto: Isaeva Iuliia/Westend61/Imago Images

Flugscham, Konsumscham, Impfscham. Wie kommt es, dass in einer Zeit, in der traditionelle Ordnungen an Bedeutung verloren haben, während individuelle Freiheiten triumphieren, uns Schamgefühle schon bei banalsten Alltagshandlungen ereilen, sogar ein Einkauf im Supermarkt selten ohne schlechtes Gewissen abläuft? Alles Mögliche kann uns inzwischen die Schamesröte ins Gesicht treiben – heißt das, dass wir in einer Schamkultur leben?

Dieser Frage geht Philosoph Robert Pfaller in seinen Zwei Enthüllungen über die Scham nach. Der Essay ist ein fröhlicher philosophischer Ritt durch Theorien der Scham, etwa aus der Feder von Günther Anders, Léon Wurmser und Sigmund Freud.

Pfaller, der zuletzt in seinem Buch Die blitzenden Waffen die Rolle der Rhetorik für die Produktion von Erkenntnis hervorgehoben hat, liefert hier einen stilistisch glänzenden Essay ab, der allerdings einen interessanten Fehlschluss enthält.

Wer über seine Füße stolpert ...

Aber von vorne. Pfaller eröffnet seine zwei Enthüllungen mit einer erstaunlichen Einsicht: Galt es früher noch, sich für ein Zuwenig zu schämen, ist heute oft ein Zuviel Ausgangspunkt für schamhafte Reaktionen. Flugscham kann nur empfinden, wessen Einkommen Flugreisen zulässt. Scham angesichts von Körperfülle empfinden nur Menschen in Überflusskulturen. Bereits Günther Anders führte den Begriff der promethischen Scham ein, der das beschämte Erstaunen angesichts der Vollkommenheit menschengemachter Dinge meint. Doch heute ist das Erstaunen einer Schuld gewichen: Menschengemachtes mag Ehrfurcht einflößend sein, aber dem zeitgenössischen Prometheus haftet der Ruf einer Umweltsau an. Daher die Flugscham.

Mit ihr kommen wir zu einer weiteren Erkenntnis über die Scham: Sie bedarf keines Verschuldens. Wer über seine Füße stolpert und schamhaft errötet, fürchtet nicht, ins Gefängnis zu wandern. Wer sich schämt, weil er ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen hat, der hat sich an niemandem versündigt – allenfalls an der Sahnetorte. Aber im Zeitalter der Scham wird aus Sünden und Fehltritten eine mächtige Waffe geschmiedet: das „shaming“. Es begegnet uns in der Form des Bodyshamings, wenn nicht-ideale Körper einen Anspruch darauf erheben, sichtbar zu sein. Es kann auch zu einer mächtigen politischen Waffe werden. Beschämt wird ja nicht nur, wer Justiziables getan hat. Oft genug ist das Gegenteil der Fall: Es wird verurteilt, was als unmoralisch gilt, aber de facto legal ist. Anders als vor Gericht, wo der Beklagte sich immerhin verteidigen darf und (hoffentlich) die Chance auf einen fairen Prozess erhält, tritt beim Shaming die Öffentlichkeit als Kläger, Richter und Henker auf. Diese Mischung aus Shaming und der Umkehrung der Schamgründe von einem Zuwenig zu einem Zuviel treibt ungeahnte politische Blüten, etwa wenn sich Menschen neuerdings für ihre Privilegien schämen sollen.

Diese grundlegenden Einsichten über die zeitgenössische Scham führen Pfaller nun zu zwei „Enthüllungen“. Der Philosoph möchte auf diesem Wege zwei anerkannte Ansätze zur Erklärung der Scham korrigieren – den anthropologischen und den psychoanalytischen. Der anthropologisch-soziologische Blick basiert auf der Unterscheidung von Scham- und Schuldkulturen. Schamkulturen zeichnen sich durch die Angst vor der Fremdbeurteilung des Handelns eines Subjekts aus, in Schuldkulturen wird das Subjekt für ein konkretes Verschulden bestraft. Schuld ist graduell, Scham absolut. Man könnte nun meinen, die Bemerkungen über das Shaming liefern Indizien dafür, dass wir in einer Schamkultur leben. Pfaller weist diese Vorstellung jedoch zurück, da Schamkulturen wesentlich auf den Konzepten Ehre und Stolz basieren, die für „unsere“ Kultur eine untergeordnete Rolle spielen. Der Vergleich von Schuld- und Schamkultur führt Pfaller aber zu einer wichtigen Erkenntnis: Scham ist keinesfalls lediglich „außengeleitet“, vielmehr ist sie trianguliert: Es geht nicht nur um innersubjektive Vorgänge oder eine konkrete Handlung, sondern auch um die Beurteilung von Subjekt und Handlung durch Dritte.

Scham, die Funktion des Zu-wenig-Seins

Die zweite Enthüllung betrifft den psychoanalytischen Ansatz zur Erklärung der Scham: Scham wird von diesem als Reaktion des Ichs auf die Ansprüche des Über-Ichs interpretiert. Scham wäre demnach eine Funktion des Zu-wenig-Seins. Aber Pfaller hatte ja bereits elaboriert, dass dies heute nicht mehr der Fall sein muss, weil Scham aus einem Zuviel resultieren kann. Pfaller deutet daher die Scham in Anlehnung an Günther Anders als die Reaktion eines Unter-Ichs auf das Ich. Nicht das Ich erlebe sich in der Scham als minderwertig, vielmehr blicke das Unter-Ich in der Scham „entsetzt auf ein entblößtes Ich“.

Für seine Herleitung des Konzeptes der Scham als Produkt des Unter-Ichs geht Pfaller nun recht eklektizistisch vor, bemüht etwa das Konzept der symbolischen Kastration bei Jacques Lacan, des naiven Beobachters bei Octave Mannoni und Sigmund Freuds zweites topisches Modell. Für sich genommen ist das durchaus interessant, nur bildet ein Fehlschluss den Ausgangspunkt. Pfaller beharrt ja darauf, dass das Ich sich nicht als minderwertig erleben kann, wenn der Grund für die Scham doch ein Zuviel sei. Nur meint dieses Zuviel ja die konkrete, phänomenologische Ebene (zu viel Wohlstand, zu viel Körperfülle), aber die Minderwertigkeit des Ichs betrifft die imaginäre Ebene. Auch Scham angesichts von Körperfett, also einem Zuviel, lässt sich als Reaktion auf ein Gebot des Über-Ichs interpretieren („iss maßvoll!“). Tragisch ist dieser Fehlschluss auf Ebene der Rhetorik nicht. Wir lernen daraus: Blitzende Waffen trüben bisweilen den Blick. Stechen können sie trotzdem.

Info

Zwei Enthüllungen über die Scham Robert Pfaller S. Fischer 2022, 208 S., 22 €

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

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