Sei edel, Digger!

Literatur Pia Klemp wird in Italien verfolgt, weil sie Leben rettete. Das tut nun auch ihre Romanheldin
Ausgabe 41/2019
Blick aus der Sea-Watch 2 vor der libyschen Küste
Blick aus der Sea-Watch 2 vor der libyschen Küste

Foto: Imago Images/Christian Ditsch

Spätestens seit der „Gutmensch“ sich zur politischen Kampfvokabel entwickelt hat, die erst genüsslich von Rechten instrumentalisiert, dann von Linken appropriiert wurde, ahnen wir, dass es einen fundamentalen Widerspruch zwischen ethisch Gutem und politisch Nützlichem geben könnte. Dabei lauert in dem Begriff durchaus eine zumindest psychologisch interessante Erkenntnis: dass so ein guter Mensch, der hilft und rettet, womöglich inneren Motiven folgt, die über das Helfen hinausgehen. Wie steht es beispielsweise mit der Macht über Leben und Tod von Geretteten?

Die Ambivalenz des Retters jedenfalls gäbe einen interessanten Stoff für einen Roman, der die Abgründe der Helferseele erkundet oder sie an ihren eigenen, zu hohen Erwartungen an das ethisch Gute scheitern lässt. Vielleicht wollte die 1983 geborene Seenotretterin und Aktivistin Pia Klemp so einen Roman schreiben. In Lass uns mit den Toten tanzen schickt sie eine junge Kapitänin samt Crew zur Seenotrettung aufs Mittelmeer. Sehr punkig ist ihre Protagonistin; natürlich lehnt sie sich gegen die internationalen Autoritäten auf hoher See auf. Die feministische Hardcore-Veganerin, deren Stream of Consciousness unentwegt Kapitalismus- und Kolonialismuskritik sprudeln lässt, erzählt ihre Geschichte aus erster Hand. Leider beginnt hier das Problem des Romans.

Die Kapitänin nämlich erhält von Pia Klemp einen Horizont, der nicht wesentlich über den Radarbildschirm ihres Schiffes hinausreicht. Gut, die Literatur darf nah am Leben sein, aber die Frequenz morgendlicher Darmerleichterung, des „Kackens“ also, muss sie nicht zwingend vermerken. Die Erzählerin schippert mit ihrem leicht schrottreifen Kahn durch ein Meer von Schwarz-Weiß-Figuren, bei denen die Rollen klar verteilt sind: Böse sind die italienischen Capi; ultraböse ist die libysche Küstenwache.

Verlogene Biomilch

Gut hingegen sind die Kapitänin, die Geflüchteten, die „Gäste“ genannt werden, daneben Maschinistin Claire und andere Freundinnen, die strengen ethischen Maßstäben gerecht werden. Weil sie auf Fleischverzehr verzichten und natürlich das ganze fucking System stürzen wollen. Bisschen grau sind nur die anderen Seenotretter, die trotz ehrenamtlicher Tätigkeit zum Entsetzen der Kapitänin verlogene Biomilch kaufen oder ab und zu nicht- veganen Kuchen vertilgen. How dare you?

Die behauptete Misanthropie der Kapitänin hätte womöglich einen inneren Konflikt anheizen können. Was zum Beispiel, wenn die Geretteten eventuell schlechte Menschen wären, die den hohen Maßstäben der Retterin nicht gerecht werden? Was, wenn sie lustvoll Fleisch äßen, sexistisch vulgär daherredeten oder gar gewalttätig wären?

Menschenleben bleibt Menschenleben. Leider kann Klemps Kapitänin, deren tiefsinnigste emotionale Äußerungen von „Oh Fuck“ bis „Digger, ist das schön!“ reichen, solche Reflexion nicht leisten. Sie hätte ein schöner, schopenhauerscher Charakter sein können. Der Misanthrop begründete eine Ethik des Mitleidens, und die Tierethik rückte mit Schopenhauer erstmals ins Zentrum des westeuropäischen Denkens. Die Misanthropie der Kapitänin ist aber nur ein kleiner erzählerischer Kniff. Der kommt just dann zum Einsatz, als die Gäste mal ein bisschen unangenehm werden und den Befehlen der Crew nicht Folge leisten. Dass diese Gäste vielleicht „Arschlöcher“ sind, wie sie es bei so vielen anderen Figuren feststellt, darf ihr aber nicht in den Sinn kommen. Sie stehen hier nur für das Allgemein-Menschliche, Allzumenschliche. Ist das nicht auch eine Art von Rassismus – dass ein Schwarzer nicht auch mal ein Arschloch sein darf, so ganz individuell?

Individuen sind die Gäste an Bord aber ohnehin nicht. Die einzigen Geflüchteten, die Namen haben, Firas und Saad, sind natürlich Arzt und Ingenieur. Damit nur ja kein Zweifel an der Nützlichkeit der Geretteten aufkommt? Anders als die italienischen Capi wundern sie sich nur kurz über die weibliche Kapitänin, stecken die Gender-Verwirrung schnell weg und kochen vergnügt für die ganze Crew. Die Welt auf dem Meer kann so schön sein!

Vielleicht hätte Klemp einen Erfahrungsbericht schreiben sollen, verbunden mit einem politischen Appell. Sie hätte jedes Recht auf radikale Einseitigkeit. Klemp ist nicht ganz so bekannt wie Carola Rackete, wird aber von italienischen Behörden mit gleicher Vehemenz kriminalisiert. Ihr und ihrer Crew droht ein Verfahren, das sie eine halbe Milliarde Euro (!) kosten könnte. Umso wichtiger, den Wahnsinn hinter diesem Justizskandal öffentlich zu machen. Es mit einer Romanfigur zu tun, die vom eigenen hypermoralischen Rigorismus geradezu besoffen ist, lässt dieser Roman aber auf Grund laufen, noch bevor er Fahrt aufnehmen kann.

Info

Lass uns mit den Toten tanzen Pia Klemp Maro Verlag 2019, 224 S., 20 €. Pro verkauftem Buch geht ein Euro an Sea-Watch e.V.

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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