In einem Punkt kann Literatur dem Journalismus überlegen sein: Manchmal gelingt es ihr, fühlbar zu machen, was sich sonst nur schlecht erklären lässt. So verhält es sich auch mit Lukas Rietzschels Debütroman Mit der Faust in die Welt schlagen.
Rietzschel erzählt die Geschichte des Brüderpaares Tobias und Philipp, beginnend mit Tobis Einschulung im Jahr 2000. Zwischen Tobis und Philipps ganz kleiner Welt in dem winzigen Örtchen Neschwitz, bei Bautzen gelegen, und der großen Welt da draußen gibt es eigentlich keine Überschneidungen. Selbst die Nachbardörfer wie Königswartha, ebenfalls an der B 96 gelegen, die die beiden Dorfhälften einmal mittig durchschneidet, sind schon die Welt da draußen. Auch der Autor, Jahrgang 1994, wurde in einem dieser kleinen Dörfer geboren, in Räckelwitz nämlich. Vielleicht erscheint die kleine Gemeinde, die Rietzschel schildert, auch deswegen sehr authentisch: Man kann sie förmlich vor sich sehen, die graubraunen Häuschen mit winzigen Fenstern, in denen Scheibengardinen über frischen Orchideen, die es neulich noch im örtlichen Netto im Angebot gab, und Plastikblumengestecken vergilben.
In dieser Region Ostsachsens sind Dörfer wahlweise deutsch oder sorbisch geprägt, auch wenn jede Ortschaft stets zweisprachige Straßenschilder besitzt. Neschwitz ist eher deutsch, die Sorben aus den Nachbardörfern werden misstrauisch beäugt und sind zunächst die Lieblingsfeinde der dauergelangweilten Jugendlichen, die bei Dorffesten und dem jährlichen Hexenbrennen nach Anlässen für Prügeleien suchen. Die Brüder wachsen wohlbehütet auf; mit dem Einzug ins eigene Häuschen, vom Vater eigenhändig kurz vor Tobias’ Einschulung errichtet, gelingt ein sozialer Aufstieg, der es fortan erlaubt, auf die anderen Dörfler herabzusehen. Philipps und Tobis Eltern sind keine Wendeverlierer.
Nach und nach bricht mehr Welt in das Leben der Brüder ein: Die Anschläge von 9/11, der Irakkrieg. Die Welt ist dabei nicht mehr als ein Strom unverständlicher Bilder; Krieg und Weltpolitik, jeden Tag ins heimische Wohnzimmer geliefert, sind kryptische Zeichen, die der stille Tobi nicht zu entziffern vermag – und die die Eltern nicht erklären können oder wollen. So erscheint die Welt wie ein Zeichenrätsel.
In den 2010ern kippt die Stimmung. Die Brüder geraten in schlechte Kreise, wie man so gerne sagt. Menzel, ein ausländerfeindlicher Halbsorbe, stiftet zu allerhand kleinen Straftaten an: Man bewirft das Haus einer türkischstämmigen Mitschülerin mit Schweineteilen. Zettelt Prügeleien auf Dorffesten an.
Der Vater verbringt mehr und mehr Zeit mit seiner Geliebten, die Mutter vereinsamt, der Großvater stirbt. Irgendwann geht alles Schlag auf Schlag. Der geliebte Garten des Großvaters muss verkauft werden, ausgerechnet an eine syrische Familie. Philipp zieht sich aus dem Kreis von Unruhestifter Menzel zurück. Seine Eltern erlebt Tobias nur mehr als Zaungäste des eigenen Lebens. Tobis Welt zerbricht.
Als dann auch noch die längst stillgelegte örtliche Grundschule als Unterkunft für Flüchtlinge hergerichtet werden soll, ist das Maß für Tobias voll. Er wird zum Pegida-Mitläufer (auch wenn der Name nicht fällt), er findet es schade, dass er in Heidenau, wo Demonstranten einen Bus mit Flüchtlingen belagerten, nicht dabei sein konnte. Politiker sind ihm nur Marionetten, besonders die ostdeutschen.
Aus der tauben Lähmung, die Tobias verspürt, wird schließlich blinde Wut: Wie gerne er mit der Faust in die Welt schlagen würde! Wie gut, dass die Welt in Gestalt von Flüchtlingen ins Dorf kommt. Stellvertretend werden sie geschlagen.
Wie Handke auf zu viel Kaffee
Rietzschel schildert all das in einer nüchternen, reduzierten Sprache. Subjekt, Prädikat, Objekt: Die Sätze kommen ohne Ausschmückungen daher. Das erzeugt einen leicht monotonen Leseflow, der den Leser vom Geschehen dissoziiert – so wie die Brüder allenfalls distanzierte Zuschauer der Welt um sie herum sind. Das Geschehen fließt am Leser vorbei, man kommt den Protagonisten nicht sonderlich nah. Stilistisch ist das ein probater Kniff, macht es doch erlebbar, was die Brüder wahrnehmen – oder auch nicht. Desto ärgerlicher erscheinen dann aber die Versuche des Autors, die Atmosphäre des Textes künstlich zu verdichten. Ständig fallen Kastanien und knacken, wenn man auf sie tritt. Vögel fliegen in die Luft oder landen. Schneeflocken fallen. Vielleicht soll das Sekunden der wahren Empfindung abbilden; zumeist aber klingt es nur wie ein Peter Handke auf zu viel Kaffee. Ohne diese Momente wäre der Text, der übrigens mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet wurde, noch konsequenter und stimmiger.
Ob sich Menschen so wie Tobias radikalisieren? In jedem Fall wirkt seine Geschichte plausibel, gerade weil er so durchschnittlich ist. Er leidet allenfalls an unendlichem Ennui, dem er eventuell entgehen könnte – zöge er vielleicht in eine der Großstädte Sachsens, gar nicht so fern von der Heimat, die bei ihm allenfalls als Folklore aus Bautzener Senf und Pulsnitzer Lebkuchen aufscheint. Auch die Bindung an seine Eltern kann es nicht sein, die ihn zurückhält. Tobias ist nicht abgehängt, irgendwie hat er sich selbst abgehängt. Hat den Anschluss an die Welt verpasst, die er mit Bitterkeit beäugt. So, wie er die hübschen Mädchen auf den Dorffesten beäugt, ohne zu ihnen Kontakt aufnehmen zu können. Tobis Wut hat einen blinden Fleck. Die eigene Rolle in der Welt.
Info
Mit der Faust in die Welt schlagen, Lukas Rietzschel, Ullstein 2018, 320 S., 20 €
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