Susan Sontag war vieles. Essayistin, Novellistin, Filmemacherin und Theaterregisseurin. Legendär wurden ihre Essays zu den Themen Fotografie, über „Camp“ und europäische Filmemacher und Autoren wie Jean-Luc Godard oder Walter Benjamin. Sie sah sich selbst als Vermittlerin zwischen der europäischen Nachkriegsavantgarde und den USA der 50er Jahre, in einem restaurativen, bisweilen anti-intellektuellen Klima. Bei Diaphanes ist nun ein Sammelband mit Essays zu Sontag erschienen. Radikales Denken heißt er. Die Herausgeberinnen Anna-Lisa Dieter und Silvia Tiedtke greifen darin den Titel eines Symposiums auf, das im November 2014 anlässlich des zehnten Todestages der Sontag veranstaltet wurde.
Bereits der Untertitel des Buches wirft beim Leser eine Frage auf, lautet er doch: Zur Aktualität Susan Sontags. Warum sollte sie, die vielleicht einflussreichste amerikanische Intellektuelle des 20. Jahrhunderts, so wenige Jahre nach ihrem Tod denn nicht mehr „aktuell“ sein? Man muss nicht lange nach dem Gegenwartsbezug der Arbeiten Sontags zu den Themen Krankheit, Metapher, Fotografie und (Gewalt-)Pornografie suchen. Dass die Frage trotzdem gestellt wird, hängt sicher mit Sontags Rolle als Star-Intellektuelle zusammen. Nicht selten setzt schließlich nach dem Ableben eines Stars der Versuch einer Neubewertung des Werkes ein.
Überhaupt stellt sich bei Autoren, die sich nicht den Künstlern eines bereits „gesicherten“ Kanons widmen, sondern vielmehr zeitgenössische Phänomene betrachten, stets die Frage, ob sich ihr Urteil auch Jahrzehnte nach dem Erscheinen ihrer Arbeiten bewahrheitet. Vielleicht wird auch deshalb ein Essay Sontags, Notes on „Camp“, im Buch besonders häufig zitiert: Steht er doch für Sontags Gespür für ein kulturelles Phänomen, das sich zwischen Populär- und Gegenkultur bewegt und zugleich für die kulturwissenschaftliche Betrachtung geradezu prädestiniert ist. Zugleich machte und macht man Sontag zum Vorwurf, dass sie Camp, indem sie sich seiner Ästhetik widmete, entpolitisiert habe, wie auch Eckhard Schumacher in seinem Essay über Sontag und die Listen des Camp herausarbeitet. Was an Camp fasziniert, ist der Umstand, dass er sich der Definition entzieht. Camp ist Kitsch, aber nicht jeder Kitsch ist Camp. Er kann allenfalls in einem Cluster von Familienähnlichkeiten und serieller Reihung klassifiziert werden: Mozart ist Camp, Beethoven nicht. Antoni Gaudí ist Camp, Walter Gropius nicht. Tiffanylampen sind Camp, der Breuer Chair ist es auf keinen Fall.
Querlesen erwünscht
Offenbart sich im Fall der Camp-Kultur oder von Sontags Betrachtung der Ästhetik Leni Riefenstahls eine erfrischende Offenheit im Umgang mit vermeintlich „minderwertiger“ Ästhetik? Vielleicht verbirgt sich dahinter viel mehr der Wunsch, eine ästhetische „Entdeckung“ als Erste zu beschreiben. Auch das hat man ihr bisweilen vorgeworfen. Nicht selten gelang es Sontag, kraft ihrer übermächtigen Kritikerstimme Autoren zu nobilitieren – man denke nur an W. G. Sebald. Sie verhalf ihm nicht nur zu Anerkennung in den USA, sie erhoffte sich Anerkennung auch von ihm, erfuhr jedoch das Gegenteil. Michael Krüger vermerkt in seinem Essay über Susan Sontag und Deutschland Sontags Kränkung angesichts der Tatsache, dass Sebald sie in New York geradezu schnitt. In dieser kleinen Anekdote offenbart sich auch eine erstaunliche Sensibilität der Sontag, die nicht recht passen will zu dem Bild, das man von ihr hat.
Wie stark Sontags Wirkung und Inszenierung ihre Rezeption beeinflussen, zeigt Radikales Denken, das ausdrücklich zum Querlesen einlädt und hierfür Textmarker setzt: Sie unterscheiden nach Schreibweisen, Einflüssen, Inszenierung und Wirkung. Zwei der vier Marker beziehen sich also allein auf die Person hinter dem Werk, und eigentlich kein Text kommt ohne einen Verweis auf Sontags Persönlichkeitsstruktur aus. Das ist deshalb besonders seltsam, weil Sontag gerade nicht bekenntnisreich das eigene Leben zum Zentrum ihrer Texte machte. Diesen Widerspruch thematisiert auch Heide Schlüpmanns Beitrag Was soll’s. Sontag habe eine Entscheidung treffen müssen: erfolgreich als öffentliche Intellektuelle und Frau schreiben zu können – gewissermaßen körper- und geschlechtslos – oder sich aus dem „leibhaften Leben“ heraus zu äußern. Beides, so muss man jedenfalls vermuten, lässt sich schwer vereinbaren. Das führe aber gerade nicht, so Schlüpmann, zum Verschwinden der Persona der Schreibenden, sondern vielmehr zur Verschmelzung von Person und Text. „Sontag selbst löst die Grenze zwischen Schreiben und sich Darstellen – als Person, in Person – auf.“
Einer der interessantesten Textbeiträge, jener von Ina Hartwig, widmet sich dann auch ganz und gar der Darstellung Sontags. Hartwig betrachtet den Bildband A Photographer’s Life von Annie Leibovitz, die mit Sontag 16 Jahre lang zusammenlebte. Hartwig zeigt, wie Leibovitz’ Bildprogramm, das die sterbende Sontag und die Geburt der Tochter Sarah festhält, ein mit jüdischen und christologischen Bezügen reich ausgeschmücktes Feld öffnet: Das Baby Sarah, der über 50-jährigen Leibovitz geboren, erinnert namentlich natürlich an jene Sarah im Alten Testament, die im hohen Alter schwanger wird. Nur dass es hier das Kind ist, das den Namen der biblischen Erzmutter trägt. In der Dreierkonstellation Leibovitz, Sontag und Sarah – Mutter, (Groß-)Mutter und Tochter – flackert auch etwas von der Darstellung der Anna selbdritt auf, also der Darstellung der heiligen Anna samt Tochter Maria und Jesuskind. Ein Foto zeigt gar die tote Sontag wie Hans Holbeins toten Christus im Grab. Es wirkt, als zeige Leibovitz die Verstorbene in einem Glas-Sarkophag. Sontag, die den Krebs im Besonderen und die Krankheit im Allgemeinen von wuchernden Metaphern befreien wollte, um einen unverstellten Blick zu ermöglichen, wird nach dem Tod in einem wahren Metaphernwust verewigt. Sie wird dabei der weltlichen Sphäre ganz und gar entrückt. „Heilung war nicht mehr möglich; was bleibt, ist Heiligung.“ Hätte ihr das gefallen? Die Frage kann uns Sontag nicht beantworten. Überhaupt erzeugt das Kreisen um Sontags Person nicht mehr Wissen um ihre Texte. Der Sammelband erinnert den Leser daran, welch schillernde Person hinter den Texten steht. So vielfältig die Ansätze zur Erklärung des Phänomens Susan Sontag auch sein mögen, ihrem Werk kommt man damit nicht näher. Zu sehr scheint allenthalben die Persönlichkeit der Schreibenden durch die Zeilen hindurch. Was nicht heißt, dass dieses Buch nicht lesenswert wäre, im Gegenteil! Man bekommt nur ungeheure Lust, die Essays dieser radikalen Denkerin erneut zu lesen.
Info
Radikales Denken. Zur Aktualität Susan Sontags Anna-Lisa Dieter, Silvia Tiedtke (Hg.) Diaphanes 2017, 288 S., 29,95 €
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