The British Empire Strikes Back

Großbritannien Selten hat ein Regierungschef mit so geringem Wählerrückhalt im eigenen Land so viel Einfluss auf die Geschicke des Kontinents nehmen dürfen. Was bedeutet das für die EU?

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David Cameron: Wo geht die Reise hin?
David Cameron: Wo geht die Reise hin?

Bild: Carl Court/Getty Images

Zwei Wochen nach der Großbritannien-Wahl sind sich deutsche Kommentatoren einig: Der Wahlsieg für die Tories war unerwartet, aber so eindeutig, dass es keinen Zweifel an dem britischen Wählerwunsch geben kann. Josef Joffe sprach in der letzten Zeit von einem Demoskopen-Desaster, und in der Süddeutschen Zeitung stellte Daniel Brössler fest, Camerons Wahlsieg beweise immerhin dessen Gespür für die Wünsche der Briten.

Die Behauptung, der britische Wähler habe bekommen, was er gewählt habe, muss jedoch verwundern, wenn man beachtet, dass gerade einmal 37 Prozent der Wähler für die Konservativen stimmten, die im Vergleich zur letzten Wahl (nach der sie eine Koalition mit den Liberalen eingehen mussten) einen Netto-Stimmengewinn von gerade einmal 0,8 Prozent verbuchen durften.

Nun müssten uns die Auswüchse des britischen Wahlsystems, in dem man mit einem Drittel der Stimmen eine absolute Mehrheit gewinnen kann, nicht interessieren, säßen wir nicht alle im selben Boot namens EU, das ausgerechnet durch einen Brexit (oder den Versuch, ihn zu vermeiden) zum Kentern gebracht werden könnte. Hoffentlich nicht im Mittelmeer.

Rückblende

James starrt auf die Parkuhr. Ungeduldig wartet er darauf, dass sich Münzen in die Parkuhr einwerfen lassen, damit er den Weg in das Wahllokal antreten kann. Aber der Automat nimmt seine Münzen erst ab 7.30 Uhr an. Noch drei Minuten.

Man könnte meinen, er wolle die Wahl schnell hinter sich bringen, so ungeduldig, wie er die Ein-Pfund-Münze in seiner Hand dreht. Es ist ein sonniger Morgen an diesem 7. Mai, entgegen den Klischees von englischem Wetter, und als James endlich sein Pfund einwerfen kann, schimmert das Sonnenlicht auf dem Antlitz der Queen. Gute Laune will sich bei ihm trotzdem nicht einstellen.

James’ Wahlbezirk, der im Norden Liverpools liegt, wird an diesem Morgen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einen Labour MP bestimmen. Aber James wird nicht zu seinen Wählern gehören.

James war bis zuletzt unentschlossen, welcher Partei er seine Stimme geben würde. Der Wahl-O-Mat des Guardians sah die größten Übereinstimmungen mit den Positionen der Grünen. Keine große Überraschung für ihn. Auch die meisten seiner Freunde werden diesmal Grün wählen.

James hat studiert, wie die meisten seiner Freunde, die wie er Kreative sind und ihren Lebensunterhalt hier und da verdienen. Das stört ihn nicht. Aber dass die Mieten überall in Liverpool steigen, dass hier wie in allen größeren Städten Gentrifizierung angestammte Bewohner vertreibt, die Mieten nicht mehr bezahlen können, das stört ihn.

James' Generation kennt alle Seiten der Globalisierung; die Welt rückt zusammen, er hat schon Monate in Neuseeland und Südostasien verbracht. Menschen aus anderen Teilen der Welt ziehen nach Großbritannien auf der Suche nach bescheidenem Wohlstand. Er hat kein Problem damit. Die Parolen der UKIP kann er leicht durchschauen.

Nicht die jungen polnischen Frauen, die Kinder betreuen, oder die Ukrainerinnen, die Wäsche bügeln, belasten die englischen Sozialsysteme, sondern eine neoliberale Agenda, die bei Thatcher begann, von Blair vorangetrieben und von Cameron nun vollendet werden soll. So sieht es James. Wenn er über die "upper class idiots in charge" spricht, mischt sich in seine sanfte Stimme ein hörbarer Schuss Frustration.

Aber nun ist der Stimmzettel gefaltet und in der Ballot Box gelandet. Nun liegt die Wahl nicht mehr in seiner Hand.

*

Der Tag nach der Wahl. Der Morgen beginnt mit einer abgespeckten Version des englischen Frühstücks: Schwarzer Tee und ein paar Kekse. Der kontinentaleuropäische Besucher vermisst den morgendlichen Kaffee schmerzhaft. Noch vor dem Aufstehen hatte James nach dem Smartphone auf seinem Nachttisch gegriffen, um die Wahlergebnisse zu betrachten. Man sieht ihm seine Ernüchterung an.

Kaum hat er sich aus dem Bett gequält, stöpselt er das Smartphone in die Stereoanlage. Der Imperial March, das Darth Vader-Thema in Star Wars, erklingt.

Die ersten Klänge der Musik zeichnen ein Lächeln auf seine Lippen. James betrachtet die Sache mit Galgenhumor, was bleibt ihm auch anderes übrig? Aus der engen Entscheidung und einer höchstwahrscheinlichen Koalition zwischen Tories und Liberalen oder einer Duldung der Labour Party durch die SNP ist ein eindeutiger Wahlsieger geworden: David Cameron.

Immerhin, etwas Gutes lässt sich konstatieren: Die UKIP hat erstaunlich schlecht abgeschnitten. Aber das nur, so wird es Nigel Farage später beklagen, wegen des unfairen FPTP Wahlsystems: „Personally, I think the first-past-the-post system is bankrupt“.1 Und obgleich der Gedanke James nicht gefallen kann: In diesem Punkt muss er ihm recht geben.

An diesem Tag nach der Wahl wird die Frustration vieler Wähler laut. James‘ Freunde diskutieren auf Twitter und Facebook das Wahlergebnis. Sie offenbaren einen emotionalen Aufruhr, den man den reservierten Engländern kaum zutrauen würde. Von wegen „keep calm and have a cup of tea“. So viel Tee kann man gar nicht trinken.

„The future is slums and shopping malls“, bringt es James‘ Freund Paul resigniert auf den Punkt. Hört man ihm eine Weile lang zu, könnte man tatsächlich den Eindruck gewinnen, dass Großbritannien vom dunklen Lord Cameron und dessen Todesstern bedroht wird.

Vor Pauls Augen türmen sich politische Grausamkeiten auf, die in den nächsten Jahren auf die britische Bevölkerung zukommen: Massive Kürzungen bei Polizei und Feuerwehr, Kürzungen im Sozialwesen in Höhe von 12 Mrd. Pfund, Fracking, das Einkassieren des Human Rights Act, TTIP. Die Liste könne man ewig weiterführen, so Paul.

Er und James teilen die Sorgen, die hierzulande gegenüber TTIP geäußert werden. Sie haben Angst, dass mit TTIP auf lange Sicht eine neoliberale Agenda über die Regierungszeit Camerons hinaus festgeschrieben wird, weil potenzielle zukünftige Gesetzesänderungen allein durch Investorenschutzklauseln ausgehebelt werden könnten. Dass in EU-Verhandlungen Zugeständnisse an Cameron und die Tories bezüglich der Klauseln des Abkommens gemacht werden könnten, muss nicht nur Briten Sorgen bereiten. Ein Treppenwitz geradezu, dass ausgerechnet Obamas Demokraten TTIP vorerst ausbremsten.

Auch die Abschaffung des Human Rights Act, die ganz oben auf der 100 Tage To-Do-Liste Camerons steht, kann eingefleischten Europäern nicht gefallen. Das Gesetz legt fest, dass alle in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegten Gesetze ausdrücklich auch in Großbritannien gelten und dort auch eingeklagt werden können.

Cameron beklagte in einer Rede vor Tory Delegierten:

“[…] interpretations of that charter have led to a whole lot of things that are frankly wrong. Rulings to stop us deporting suspected terrorists. The suggestion that you’ve got to apply the human rights convention even on the battlefields of Helmand. And now – they want to give prisoners the vote. I’m sorry, I just don’t agree.”

Cameron schaudert es also vor einer Welt, in der Menschenrechte auch in Afghanistan zu gelten haben. Die Frage der Europäer sollte lauten: Muss uns vor einer britischen Regierung schaudern, die mit Blick auf ein Votum über den Verbleib in der EU rechtes Terrain erobern will und sich als neoliberaler Hardliner an der Peripherie Europas positioniert?

Welche Zugeständnisse kann die EU den Briten machen? Wenn die Entscheidung über Flüchtlingsaufnahme-Quoten fällt: Wird das wirtschaftsstarke Großbritannien sich seinen Pflichten dann entziehen dürfen? Ein "No" zu entsprechenden Quoten würde der Tory Regierung ein entscheidendes Pfund liefern, mit dessen Hilfe man gegen Nigel Farages UKIP wuchern könnte.

Ungehemmter Handel, aber bitte keine ungehemmte Zuwanderung. Großbritannien versucht, semipermeable Grenzen zu etablieren. Können wir die britische Rosinenpickerei tolerieren?

Eines können wir aus der Großbritannien-Wahl mit Blick auf die EU lernen: Die Stärkung des EU-Parlamentes gegen den Europäischen Rat könnte die Einflussnahme von Regierungschefs mit nationaler Agenda wesentlich eindämmen. Nicht zuletzt wäre das ein Gewinn für alle europäischen Wähler.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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