Total unterkuschelt

Haptik Elisabeth von Thadden schreibt über unsere berührungsarme Gesellschaft
Ausgabe 41/2018

Ein einfaches Arrangement: zwei Stühle, ein Tisch. Eine Frau im roten Kleid. Ein Mann tritt vor, setzt sich. Die Frau schlägt die Augen auf. Plötzlich ist da ein Moment des Erkennens. Gemeint ist Marina Abramovićs „Performance The Artist Is Present“ im MoMA im Jahr 2010. Der Künstler Ulay, durch eine langjährige Liebes- und Leidensgeschichte mit Abramović verbunden, begegnet der Künstlerin. Abramović streckt schließlich die Hand aus. Die Berührung trifft. Sie trifft den Betrachter, sie trifft ganz offensichtlich auch Ulay, der nun mit den Tränen ringt, die längst über Abramovićs Wangen rinnen. Es ist ein Moment der totalen Berührung in einer berührungslosen Gesellschaft.

So jedenfalls bezeichnet die Szene Elisabeth von Thadden, die in ihrem gleichnamigen Buch den Widersprüchen unserer Gesellschaft nachspürt: einer Gesellschaft, in der Individuen mehr Platz denn je für sich beanspruchen können und zugleich Angst vor zu viel körperlicher Nähe empfinden. In der Menschen Geld bezahlen, um von Profi-Händen oder Fremden auf Kuschelpartys berührt zu werden, aber Erzieher davor zurückschrecken, Kinder tröstend zu umarmen – aus Angst, ihre Handlung könne falsch gedeutet werden. Eine Gesellschaft auch, in der das Recht auf körperliche Unversehrtheit Grundrecht ist, dessen Bruch jedoch verdrängt. Oder wie sonst ließe sich der Aufruhr um metoo erklären? Kurz, von Thadden spürt den Aporien unserer Körperkultur nach. Eines wird deutlich: Der Körper und seine Berührungsfähigkeit verraten viel über die kollektive seelische Verfasstheit der Gesellschaft, in der wir leben. Da ist zum Beispiel die Heilpraktikerin und Masseurin Birthe Halstadt, die der Autorin Einblicke in ihren Arbeitsalltag ermöglicht. Ganz konkret, indem von Thadden sich auf die Massagebank legt. Erst danach wird das Diktiergerät eingeschaltet. Halstadt spricht von Menschen, die sich auf Berührungen nicht einlassen können. Und von Berührenden, deren gute oder schlechte Absichten spürbar werden. Ausgerechnet das Geld, das die Masseurin erhält, rahmt ihre Handlung als Interaktion, in der eine Fremde einen schutzlosen Körper berühren kann.

Berührung, das verdeutlich Tastsinnforscher Martin Grundwald, ist das Wichtigste für die Seele des Menschen. So kann ein blinder oder tauber Mensch ein erfülltes Leben führen. Ein Menschenleben ohne Sinn für Berührung aber ist schlichtweg unmöglich. Ein Säugling, der nicht gestreichelt und gehalten wird, verkümmert. Mangelnder Hautkontakt macht auch Erwachsene krank, weswegen es höchste Zeit wäre, Pflegekräften in Heimen mehr Zeit für ihre Patienten einzuräumen: die kleinen Gesten, wie eine gehaltene Hand oder ein Streicheln über die Wange. Berührungen stärken das Immunsystem, und nichts kann das Gefühl von Haut auf Haut ersetzen – auch kein noch so drolliger Pflegeroboter.

Was aber geschieht mit einer Gesellschaft, die kollektiv lieber Smartphoneoberflächen streichelt? Die beinahe libidinöse Bindung an technische Gadgets spricht Bände über das Begehren in unserer Gesellschaft, in der E-Sex – als Sexting auf Whatsapp oder Selbstbefriedigung vor der Webcam – den leiblichen, potenziell gefährlichen, in jedem Fall eindringlichen Kontakt zwischen zwei Körpern verhindert. Dabei gilt das Paradoxon: Körperliche Distanz und immer intimere Onlineentblößung gehen Hand in Hand.

Elisabeth von Thadden – und das erfreut ungemein an diesem Buch – schreibt jedoch keine Dystopie über unterkuschelte Körper. Ihr Buch, das als Gedankensammlung auf Notizzetteln auf Reisen zwischen Hamburg und Jena begann, ist eine – trotz betrüblicher Befunde – unterhaltsame, wenn auch nachdenklich stimmende Lektüre. Man ertappt sich beim Lesen übrigens dabei, ab und an die Hand auf die des Partners oder Kindes zu legen. Nur für den Fall.

Info

Die berührungslose Gesellschaft Elisabeth von Thadden C.H. Beck 2018, 205 S., 16,95 €

Zu den Bildern

Die Bilder dieser Beilage stammen aus dem Fotoprojekt „The Broken Sea“ von Nata Sopromadze und Irina Sadchikova.

Nata Sopromadze wurde in Sochumi geboren, das ist die Hauptstadt der Autonomen Republik Abchasien am Schwarzen Meer. Nata war 12 Jahre alt, als die Familie nach Tiflis floh und alles zurücklassen musste. Seither hat Nata die Orte ihrer Kindheit nie wieder gesehen, sie darf in ihre Heimat nicht einreisen.

Ihre Freundin Irina Sadchikova ist in der Ukraine geboren, sie lebt derzeit in Moskau. Irina hat die Orte von Natas Kindheit besucht und fotografiert. Nata benutzte die Filme, sie fotografierte damit ihr Leben, ihre Kinder und sich, ohne zu wissen, was sie doppelbelichtet. Entstanden sind traumschöne Zufallsaufnahmen, ein Manifest für die Freiheit.The Broken Sea ist nominiert für den Unseen Dummy Award, mehr Information gibt’s hier: www.brokensea.photoshelter.com

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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