Wann hörten die Männer auf zu weinen? Marcel Beyer greift diese Frage, die Roland Barthes schon stellte, in seinem neuen Buch Das blindgeweinte Jahrhundert erneut auf. Jeder großen Frage ist eine weitere Frage vorgängig, und die müsste so lauten: Was bringt Männer eigentlich zum Weinen? Es sind, natürlich, die Frauen. Um diese Erkenntnis zu bestätigen, führt uns Beyer das berühmte Busenattentat, das Theodor Adorno bei seiner (angeblich) letzten Vorlesung ereilte, vor Augen. Eine Gelehrtentragödie in drei Akten ist das, nein, mit drei barbusigen Damen und einer Aktentasche. Freud wusste in der jüngsten und schönsten unter ihnen den Tod selbst in einer Maskierung zu erkennen. Weinte Adorno, oder weinte er nicht, als er sich mit
er sich mit der Vorahnung des Todes in Gestalt der Barbusigen umrankt sah? Auch Beyer kann das Rätsel nicht lösen, wenngleich er schon so seine Zweifel hat: Der Einzige, der als junger Student die Tränen gesehen haben will, ist ausgerechnet Guido Knopp, der gefühlige Fernsehhistoriker.MedienauswahlEs ist gar nicht so leicht zu sagen, worum es Marcel Beyer in diesem autobiografisch grundierten, funkelnden Essay geht. Natürlich geht es darin nicht einfach um Tränen, sondern um Tränen und Medien: Das Bild kann lügen, trügen, behaupten, was nicht stimmt, die Sprache, ausgerechnet, befähigt nicht zum Lügen, ist wahrhaftig, selbst dort, wo der Sprecher es nicht ist. Ohne den theoretischen Unterbau der Lacan’schen Trias von Reellem, Imaginären und Symbolischem auffahren zu müssen, lässt Beyer uns wissen, dass das Symbolische stets über die Welt des Imaginären, wie sie Foto und Film verkörpern, triumphieren muss.Nur ist das freilich eine Predigt zu Bekehrten, denn der Leser, der Beyers Buch zur Hand nimmt, hat die Medienauswahl bereits getroffen. Ganz neu ist der Modus Operandi, mit dem Beyer zu Werke geht, auch nicht, spielt er doch einen alten medienwissenschaftlichen Trick durch: Man nehme ein Foto und betrachte es so lange, bis sich sein Inhalt auflöst, bis die Betrachtung der Betrachtung zum Gegenstand der Betrachtung wird und etwas aus dem Bild zurückschaut. Man schreibe einen Essay darüber. Man schreibe ihn (fast) in poetischer Sprache. Der medientheoretische Essay, der die Poetik des Autors in Bildern vor den Augen des Lesers in der Manege auftanzen lässt, ist gewissermaßen das literarische Äquivalent zum Meisterstück des Schreiners: Der beweist nicht nur seine Fertigkeit; er gibt auch ein Exempel einer handwerklichen Raffinesse, schönstes L’art pour l’art. Das Buch, das das Ergebnis der gleichnamigen Poetik-Vorlesungsreihe Beyers in Frankfurt 2016 ist, symbolisiert genau das: Das Meisterstück des Büchner-Preisträgers des vergangenen Jahres. Beyer reflektiert darin auch den eigenen Schreibprozess, seinen intellektuellen Reifeprozess, der als Schüler Kittlers beginnt.Überhaupt, es kittlert ziemlich in diesem Text. Nicht epigonenhaft, wohl aber wirkt der Geist des verstorbenen Medienwissenschaftlers Kittler durch die Wahl der Topoi und deren Montage. Das ist eine Montagetechnik, die im Grunde eine musikalische ist, also: Ein Motiv wird im Text durchgespielt, abgewandelt, fallen gelassen, wieder aufgenommen. So auch das Motiv des weinenden Adorno, das deshalb berückend ist, weil Beyer uns mit dem Icon der Ikone konfrontiert. Schöne Pointe natürlich, dass in der Figur des Denkers, die die Bühne verlässt, der Geistesgröße, der die Geisteswissenschaft hinter sich lässt, eine Dopplung auftritt: Hier tritt Adorno zur (fast) letzten Vorlesung an, dort Kittler, den der Schreibende in einem Traum mit einer eigens komponierten Oper beschenkt.Damit wäre immerhin schon ein weites geistiges Feld abgesteckt, aber es geht noch weiter. Zwischendrin lässt Beyer Helmut Kohl und Uwe Barschel die Bühne betreten und weinend oder nicht weinend wieder verlassen; auch der namentlich nicht genannte Dominique Strauss-Kahn darf sich in Text und Hotelzimmer breitmachen – als Weinen-Macher.Für eine Frau gibt es wohl nichts Schlimmeres als einen weinenden Mann. Das weniger aus Niedertracht, weniger, weil sie seinen weichen Kern verachteten. Nein, ein weinender Mann offenbart schlicht das Untröstliche, das uns erstarren lässt. Das Gesetz des Vaters, das bekanntermaßen das symbolische Feld strukturiert, kann nicht durch verheultes Glucksen hindurch sprechen. Doch der sentimentale Mann, der sich von seiner eigenen Ergriffenheit ergriffen zeigt, hat mit dem Kanzlerkandidaten Schulz neue Konjunktur. Was sonst ließe sich der kühlen, rationalen Kanzlerin entgegensetzen?Ergänzen, was nicht da istSchon weinen jenseits des linken Spektrums die Frauen, die für ihre besondere Mitleidlosigkeit bekannt sind: die bitteren Tränen der Frauke Petry, Empathie für Fortgeschrittene. Wer aber nie sein Brot mit Tränen aß, oder den Saumagen, der wird die Tränen der hartgesottenen Politiker nicht verstehen. Aber kommen wir zurück zu Adorno. Slavoj Žižek lehrt uns, dass der Einbruch des Realen in die Welt des Imaginären traumatisch sein kann. Da brechen sie also über den Gelehrten herein, die Zeichen weiblicher Omnipotenz, vielleicht klein und griffig oder groß und schwerkraftbetroffen, in jedem Fall so real, dass der Professor die Aktentasche zum Schutzschild umfunktionieren muss, auch wenn er vielleicht nicht geweint hat.Als mich die Anfrage für diese Besprechung erreichte, wurde ich um einen Text über das „blindgeweihte Jahrhundert“ gebeten. Ein Verschreiber, der so falsch nicht liegt, klingt er doch wie eine geistreiche Verschmelzung von totgeweiht und blindgeweint (ein Wort, das seinerseits ein hübsches Kompositum ist). Ein Jahrhundert, das unter einem amerikanischen Präsidenten leidet, dem man das Weinen so wenig zutraut wie die Fähigkeit zur Selbstkritik, mag Endzeitstimmung auslösen.Beruhigend: Es ist nur blindgeweint. Mit diesem Weinen verhält es sich wie mit einem blinden Fleck, vor dem man ja nichts sieht, und der trotzdem kein Loch in unserer Wahrnehmung formt, weil unser Gehirn gelernt hat, zu ergänzen, was gar nicht da ist. Ein Taschenspielertrick aber ist Beyers Buch durchaus nicht. Vielmehr ein Lesevergnügen. Ganz ohne Tränen.
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