Gewöhnlich stricken Musikermemoiren wilde Geschichten von Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll zur Legende. Manche entpuppen sich als große Literatur, andere sind immerhin Punk. Anders die Autobiografie von Blondie-Sängerin Debbie Harry: Hier schaut ein Ich in den Spiegel und versucht, sich ein Bild von seinem Selbst zu machen.
Face it kommt dabei im Plauderton daher, duzt seine Leser konsequent. Das liest sich, als säße man bei der unechten Blondine über einem Kaffee am Küchentisch, während sie Anekdoten aus ihrem Leben zum Besten gibt. Vermutlich ist das Buch so oder so ähnlich entstanden. Ein wild assoziierendes, spontanes Erzählen, angeregt von Fragen der Journalistin Sylvie Simmons. Was auch die bisweilen wirren Gedankensprünge von einem Absatz zum nächsten erklären würde.
Die Eltern gaben sie weg
Leider lassen Tonfall und Stil Harry, die immerhin mit reichlich Lebenserfahrung gesegnet ist, erschreckend naiv wirken. Und da, wo der Text versucht, lyrisch zu sein, scheitert er grandios: „Und dann kam die Zeit, die Zeit, in der ich immer, immer Angst hatte.“ Eingefleischte Harry-Fans kennen die wesentlichen Karriereschritte ihrer Ikone ja ohnehin. Sie verdingt sich als Bunny im Playboy Club, wird Background-Sängerin, lernt den späteren Blondie-Gitarristen und langjährigen Lover Chris Stein kennen, wird schließlich zur New-Wave-Wiedergängerin Marilyn Monroes.
Als Kulisse dient zunächst das kleinstädtische Amerika der 1950er und 1960er, dann das schmutzige, zum drogen- und rattenverseuchten Loch verkommene New York der 1970er. Doch selbst das bleibt im Buch seltsam blass. Das liegt auch am Namedropping. Janis Joplin und Muhammad Ali tauchen auf und gehen wieder, ohne irgendetwas für den Text getan zu haben. Überall dort schließlich, wo es traurig wird, bricht dieser Text gedanklich weg. Wie um Trauer zu übertünchen, wird der Ton besonders fröhlich. Aber gerade an Tragik ist Harrys Leben reich. Als Baby wird sie zur Adoption freigegeben; obgleich sie in einer Vorstadtidylle aufwächst, bleibt eine Leerstelle. Diese Leerstelle, so lässt es sich einem abgedroschenen Klischee nach vermuten, soll dann mit Sex und Drogen gefüllt werden. Aber New York ist ein gefährliches Pflaster. Harry wird mit vorgehaltenem Messer vergewaltigt, einer ihrer Ex-Partner wird zum gefährlichen Stalker, bedroht sie mit einer Waffe.
Sexuelle Gewalt wird zur Konstante in Harrys Leben. Nur geht der Text immer wieder darüber hinweg. Sein Plauderton packt das Trauma in Watte. Überhaupt: Sex und Trauma sind in dieser Autobiografie enger verknüpft, als der Autorin aufzufallen scheint. In vielerlei Hinsicht symptomatisch hierfür ist ein Kapitel dieser Autobiografie. Darin gibt es eine Szene, in der ein Kinderarzt den Eltern sagt, die kleine Tochter, noch ein Baby, habe einen „Schlafzimmerblick“, man solle gut auf sie aufpassen. Kein Wort des Befremdens über die Sexualisierung schon ihres Säuglings-Ichs im Buch. Es folgen Szenen, in denen das kleine Mädchen gemeinsam mit gleichaltrigen Jungs nackt ihren Körper erforscht, wonach der Text unversehens zu einer traumatischen Erinnerung umblendet: Ein Mann entblößt seinen Penis vor der kleinen Debbie, die daraufhin aufgelöst zu ihrer Mutter nach Hause rennt.
Noch eine Umblende: Harry ist nun zwölf und takelt sich gemeinsam mit ihrer Cousine auf. Dick geschminkt gehen die Mädchen auf die Straße und werden von zwei Männern jenseits der 30 um ein Date gebeten. Die Mädchen geben den Männern falsche Nummern. Abends dann klingeln die beiden Männer an der Tür der Eltern, werden bis ins Schlafzimmer des Teenagers vorgelassen.
Harry merkt zwar an, dass sie vielleicht übersexualisiert gewesen sei, aber sie habe eben Spaß an Sex gehabt. Spätestens hier sollte beim Leser der Groschen gefallen sein: Debbie Harry scheint nicht unterscheiden zu können zwischen Szenen selbstbestimmter Sexualität und dem anzüglichen Blick der anderen. Was ein sexuelles Heranreifen illustrieren soll, das zwischen Angst und Neugierde changiert, besteht in Wirklichkeit aus missbräuchlichen, übergriffigen Szenarien, die als solche nie wirklich benannt werden. Nach immerhin schon mehr als zwei Jahren MeToo, das das Sprechen über sexuelle Übergriffe auf breiter Basis befreit hat, wirkt das wie aus der Zeit gefallen. Selbst die Überschrift dieses Kapitels – „Pretty baby, you look so heavenly“ – suggeriert, dass Harry auch deswegen allenthalben Belästigung widerfuhr, weil sie eben so schön ist. Ein tragisches Missverständnis.
Vielleicht erklärt dieses Missverständnis aber auch, warum so viele Beispiele von Fankunst im Buch zu finden sind. Denn vielleicht ist es das Dilemma der schönen Frau, dass der Blick der anderen ihr Selbstbild prägt. Dieser „male gaze“, ein kontrollierender männlicher Blick, schreibt das weibliche Ich auf seine Rolle fest. Das illustriert besonders gut Andy Warhols Gemälde, das Harry als Reproduktion der wieder und wieder reproduzierten Ikone Marilyn Monroe zeigt. Debbie Harry besitzt das Original bis heute. Abgedruckt ist auch ein Bild des Künstlers Robert Williams. Die Geheimnisse, Ängste und schrecklichen Abenteuer von Debbie Harry zeigt, wie die Sängerin von einem gierigen Auge vergewaltigt wird. Es ist in jeder Hinsicht symptomatisch für dieses Buch.
Info
Face it. Die Autobiografie Debbie Harry Philip Bradatsch, Frank Dabrock, Harriet Fricke, Torsten Groß (Übers.), Heyne 2019, 432 S., 25 €
Kommentare 1
Gerade im Bereich Sexualität halte ich es für sehr problematisch, autobiografische Eigenauskünfte gemäß der eigenen Weltanschauung einer Bewertung zu unterziehen. Heißt: Es ist durchaus möglich, dass in Harrys (realer) Biografie mehr Problematisches steckt, als sie selbst via Buch zugeben will. Ebenso kann es jedoch auch sein, dass das, was die Kritikschreiberin als »schlimm« empfindet und das, was Harry als »schlimm« bewerten würde, zwei stark voneinander abweichende Dinge sind.
Sicher ist es leicht, in die Bereiche feministischer (oder auch nicht-feministischer) Küchenpsychologie abzuschweifen. Kindliche Verlust-, Verwahrlosungs-, Abweisungs-, Gewalt- oder gar Mißbraucherfahrungen führen nicht selten zu anderen Sexualpräferenzen als dies bei der (statistisch in dem Punkt nicht weiter hinterfragten) Mehrheit der Fall ist. Andererseits: Was ist »normal«? So lange diese Frage nicht geklärt ist, bleiben auch aufgeklärte Schulnoten – etwa für Harris, Joplin und den kompletten Rest popkultureller Aus-der-Reihe-Treter – letztlich Geschmacksnoten. Zumal im konkreten Fall auch die (zumindest einigermaßen ins Detail gehende) Wikipedia-Biografie nicht die Elendsstory in petto hat, welche Frau Hobrack zumindest suggeriert. In anderen Fällen – bekanntes Beispiel: Marianne Faithfull, wo Drogenabhängigkeit beziehungsweise der Kampf dagegen als durchgehendes Muster hervorsticht – mag das anders sein. (Ebenso bei Marilyn Monroe, wo die Rolle als sexuelles Begierdeobjekt unterschiedlicher Upper-Class-Angehöriger sich als wesensbildender – und bis ins Politische reichender – roter Faden durch ihre Biografie zieht.)
Fazit: Wo tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, lässt sich erfahrungsgemäß auch mit Gewinn einsteigen. Andere Biografien jedoch ausschließlich an den eigenen Maßstäben messen bringt solchen nur selten. Eher ist da schon Ärger vorprogrammiert. Wenn auch im konkreten Fall »nur« mit einem DH-Fan wie mir.