Transgender: Für Gleichberechtigung braucht es keine Schützenhilfe der Biologie

Meinung Warum bedarf es überhaupt einer biologischen Rechtfertigung der Transsexualität? Wäre Transsexualität weniger legitim, wenn sie nicht mit der Biologie des Menschen zu erklären wäre?
Ausgabe 27/2022
Transgender: Für Gleichberechtigung braucht es keine Schützenhilfe der Biologie

Illustration: Imago/Science Photo Library

Endlich, ein veritabler Skandal! Pünktlich ins Sommerloch platzt eine neuerliche Debatte um Cancel Culture und Wissenschaftsfreiheit. Diesmal produziert von der Humboldt-Universität zu Berlin, die die Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht zunächst zu einem Vortrag im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften ein-, dann nach Protesten wieder auslud. Vollbrecht verbreite biologistische und transfeindliche Thesen, hieß es aus dem Arbeitskreis kritischer Jurist*innen an der Humboldt-Universität, denn in ihrem Vortrag sollte es um die biologische Auffassung zur Zweigeschlechtlichkeit gehen. Solch ein Vortrag hätte vielleicht wenig Aufmerksamkeit generiert, wäre Vollbrecht nicht eine der Autorinnen des vielfach kritisierten Welt-Textes mit dem Titel „Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren“ gewesen. Die Öffentlich-Rechtlichen verbreiteten bewusst falsche Behauptungen zum Geschlecht und hintergingen wissenschaftliche Erkenntnisse, hieß es darin. Nicht nur queere Aktivisten zeigten sich empört.

Selbstverständlich muss es Biologen gestattet sein, ihre Erkenntnisse über Geschlecht vorzutragen, zugleich müssen Biologen zur Kenntnis nehmen, dass ihre Definition von Geschlecht im Vergleich zu der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der Geschlecht nicht nur gegeben ist, sondern täglich von Neuem (re)produziert wird, nicht vollständig ist. Sie verweisen allenfalls auf eine materielle Dimension von Geschlecht, die jedoch nicht bedeutungslos ist, wie das Phänomen der „Gender Data Gap“ in der Medizin zeigt, die eigentlich als Biodatenlücke bezeichnet werden müsste.

Vollbrechts Vortragstitel erkennt die Begrenztheit der Aussagefähigkeit der Biologie auch an, denn der Untertitel lautet ja: „warum es in der Biologie zwei Geschlechter gibt“. Dagegen behauptet der Welt-Artikel, die Zweigeschlechtlichkeit entspreche einer natürlichen, quasi göttlichen Ordnung – ganz im Sinne (erz)konservativer Ideologie, für die sich Vollbrecht, die sich selbst als links verortet, einspannen ließ.

Biologische Rechtfertigung rekurriert auf Konzepte von „Natürlichkeit“

Was an der vom Vortrag ausgelösten Debatte um Wissenschaftsfreiheit verwundern muss, ist der naive Umgang mit Begriffen wie Wahrheit und Wirklichkeit. Natürlich sind auch Wissenschaftler nicht frei von Vorurteilen, auch sie sitzen normativen Werturteilen auf, die nicht selten „Erkenntnisse“ erzeugen, die wissenschaftlich nicht haltbar sind. So wurden etwa schwarze und weiße Menschen lange Zeit unterschiedlichen „Rassen“ zugeordnet. Auch das Unbehagen am Geschlecht, wie es die Biologie definiert, kommt nicht von ungefähr. Biologie und Medizin erwiesen sich über Jahrhunderte als willige Helfer bei der „wissenschaftlichen“ Beweisführung in Fragen der Unterlegenheit der Frau.

Selbst wenn dem nicht so wäre, müsste man erklären, warum es überhaupt einer biologischen Rechtfertigung der Transsexualität bedarf. Im Grunde gehen hier queere Aktivisten einer biologistischen Logik auf den Leim. Wäre Transsexualität denn weniger legitim, wenn sie nicht mit der Biologie des Menschen zu erklären wäre? Eine biologische Rechtfertigung rekurriert stets auf Konzepte von „Natürlichkeit“ und „Norm“ – just jene Begriffe, die poststrukturalistische Ansätze dekonstruieren beziehungsweise zurückweisen.

Aus der Tatsache, dass die Biologie Zweigeschlechtlichkeit postuliert, lässt sich eben kein Gesetz zum Personenstand ableiten. Wer für die Gleichberechtigung von Transpersonen kämpft, benötigt keine Schützenhilfe der Biologie.

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Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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