Vom Tweet zur Bildungsdebatte

Bildung 4.0 Die Bildungsdebatte ist zurückgekehrt. Ausgelöst ausgerechnet durch den Tweet einer 17-Jährigen, der uns mitteilte, dass Schüler von Lebenspraxis keine Ahnung haben.

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Deutsche Schüler können in vier Sprachen Gedichtanalysen verfassen. Allein das hat ja einen Nachrichtenwert! Aber den kleinen Pennälern reicht das nicht. Sie wollen mehr wissen, immer mehr, das kann doch nicht alles sein: Mit faustischem Forscherdrang und mephistophelischem Instinkt für die richtige Pointe erobern sie nun auch die Medien, in ihrer ganz eigenen Sprache. Nicht nur die Spatzen, auch die Schüler zwitschern nun von den Dächern: Es steht nicht gut um die deutsche Bildungslandschaft.

Prompt eröffnete die ZEIT eine Serie mit dem Thema: Was soll Schule lehren? Was müssen junge Menschen heutzutage wissen? Und tut es ihnen gut, mit so viel unnützem Wissen vollgestopft zu werden?

Aber zurück auf Anfang. Nach dem PISA-Schock im Jahr 2000 hätten wir unseren Kindern alles zugetraut, aber Gedichtanalysen in vier Sprachen verfassen zu können bestimmt nicht. Es mag doch verwundern, dass dieser eher Neid als Mitleid erregende Umstand eine Art Décadence-Debatte auslöst, im Sinne von: Schau her, die Schule verbildet unsere Kinder, aber vom Leben wissen sie nichts!

In Wahrheit, so glaube ich, wird hier ein Tweet, der in aphoristischer Verkürzung (in bester deutscher Philosophen-Tradition – man denke hier nur an Nietzsche!) die Angst von jungen Menschen ausdrückt, außerhalb des sicheren Rahmens Schule und in der weiten Welt „da draußen“ zu versagen, zum Vorwand für eine Bildungsdebatte, die in immer kürzer werdenden Wellen über uns hinwegschwappt. Längeres oder kürzeres gemeinsames Lernen, Inklusion oder nicht, Allgemeinbildung vs. Spezialwissen – alles, was hier scheinbar nur zum Besten der Schüler diskutiert wird, ist doch allzu ideologisch konnotiert, und so geht auch die in der ZEIT seit einigen Wochen geführte Debatte am eigentlichen Thema vorbei. Aber was wäre dieses Thema?

Es ist doch seltsam, dass aus der Bemerkung der Schülerin Naina, sie habe nichts Lebenspraktisches gelernt, die Infragestellung des Bildungskanons folgt. Als ob der Anspruch einer weiterbildenden Schule jemals gewesen wäre, lediglich Lebenspraxis zu vermitteln. Wer so argumentiert, muss den Schulstoff auf Kochen, Bügeln, Grundlagen des Steuerrechts und Autoleasing für Anfänger reduzieren und hätte damit eine Mischung aus Hauswirtschaftsschule für höhere Töchter der 50er und Wirtschaftsgymnasium erreicht.

Warum also ergibt sich aus dem (behaupteten) Mangel an Lebenspraxis junger Menschen automatisch eine Forderung an Schulen und Lehrer? Was Kinder von heute nicht beherrschen oder Eltern nicht vermitteln, muss in den Lehrplan aufgenommen werden, so die allgemeine gesellschaftliche Forderung: Gesunde Ernährung, Medienerziehung, Fahrradführerschein, Schwimmtraining – die Schule soll neben fachlichem Wissen auch bestimmte Grundfertigkeiten des Lebens vermitteln.

Folgerichtig richtet die junge Naina die Frage nach lebenspraktischer Hilfestellung nicht an ihre Eltern, sondern an die Institution Schule. Die eigentliche Frage muss daher lauten: Was kann und was muss Schule wirklich leisten – und zwar nicht im Hinblick auf einzelne Fächer, sondern in Bezug auf allgemeine, lebenspraktische Fähig- und Fertigkeiten?

Wenn man als junger Mensch nicht weiß, wie man ein Konto eröffnet, könnte man doch schlicht die eigenen Eltern fragen. Wenn man nicht weiß, was beim Abschluss eines Mietvertrages zu beachten ist, dann frage man ebenfalls Mutter oder Vater – die werden, wie ich annehme, eine Behausung für das Aufziehen der Kinder gefunden und somit auch einen Mietvertrag abgeschlossen haben.

Mit anderen Worten: Ist es denn fair, allein von der Schule die Vermittlung von Lebenspraktischem zu erwarten? Dieser Trend besteht ja seit Jahren und zieht sich durch alle Formen von Bildungseinrichtungen: In der KITA soll vorgelesen und das Zähneputzen geübt werden, Sauberkeitserziehung stattfinden, und ganz nebenbei sollen KITA-Erzieher mithilfe von Experimenten die Begeisterung für Naturwissenschaften wecken.

In der Grundschule soll das Kind, das bis dato vielleicht weder Stift noch Schere in der Hand hatte, von Lehrern grundlegende motorische Fähigkeiten vermittelt bekommen, bisweilen muss es Deutsch lernen, aber zugleich soll die Förderung von Sozialkompetenz und der Liebe zu Kunst und klassischer Musik nicht zu kurz kommen. Die Oberschule schließlich soll nicht nur lineare Algebra sondern auch Anlagenberatung und Steuerwissen vermitteln. Puuh, ein ordentliches Programm für die armen Lehrer, die Sozialassistenten, Ernährungsberater, Steuerfachleute, Mathematiker und Literaturwissenschaftler zugleich sein müssen.

Eltern sollten sich doch fragen, inwieweit es nicht auch in den Bereich ihrer Fürsorge fällt, ihr Kind auf das praktische Leben vorzubereiten. Aber die schiere Angst, das Kind könnte später im Wettkampf mit anderen versagen, verführt Eltern dazu, Kinder in Ballett-, Yoga-, Chinesisch- und Klavierkurse zu schleifen, statt ihnen grundlegende Kompetenzen zu vermitteln: Schuhe zubinden, ein Spiegelei braten, einen Bausparvertrag abschließen.

Die Schule kann nicht immer mehr leisten. Im Gegenteil. Wir müssen die Aufgaben und Verantwortung der Lehrer wieder stärker auf fachliche Inhalte reduzieren. Elterliche Verantwortung muss hierfür gestärkt werden – aber zugleich brauchen Eltern auch Zeit und Kraft, ihre Kinder nicht nur in KITA und Schule unterzubringen, sondern sie im gemeinsamen familiären Alltag aufs Leben vorzubereiten. Dafür müssen sich gesellschaftliche Erwartungen an Kinder und Eltern ändern.

Aber schauen wir nicht nur die Seite der Eltern an. Es befremdet mich als relativ junger Mensch, dass die junge twitternde Frau, ein Digital Native, nicht auf die Idee kommt, das zu tun, was ihre Generation doch im Schlaf beherrscht: Googeln oder einfach mal bei Wikipedia nachschlagen. Idealerweise verfügt ein fast volljähriger Mensch über die erworbene Kompetenz, nicht nur ein paar Schlagworte in die Suchmaschine einzutippen, sondern auch zwischen der Qualität der Internetangebote und Antworten zu unterscheiden.

Das allein kann man von der Schule fordern: Den Umgang mit Grundfertigkeiten wie Recherche und kritische Bewertung von Inhalten zu vermitteln. Wer dann noch immer keine Steuererklärung hinbekommt – womit er sich vielleicht in guter Gesellschaft befindet - googelt die Nummer eines Lohnsteuerhilfevereins.

Naina zeigt offenkundig die Haltung einer jungen Generation, die sich von der alten nicht abgrenzt, sondern von ihr Führung und Anleitung erwartet. Diese junge Generation bricht damit mit dem althergebrachten Muster der Abgrenzung und Rebellion gegen das Alte - die Alten - was auch daran liegen mag, dass Eltern heute nicht mehr als autoritäre Obrigkeiten wahrgenommen werden und mit ihren Kindern eher freundschaftlich die Gestaltung des Miteinanders aushandeln. Eltern aber werden dadurch zu Sozialassistenten in einem dauerhaften Projekt des betreuten Lebens ihrer Kinder. So könnte die eigentliche Botschaft des Tweets lauten: Weniger Gedichtanalyse, mehr Mut zur Selbständigkeit.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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