Ist die wachsende Sensibilität im gesellschaftlichen Umgang ein Zeichen des Fortschritts oder ein Akt der Regression? Die Philosophin Svenja Flaßpöhler geht in ihrem neuen Buch Sensibel der Genese der zeitgenössischen Empfindsamkeit nach und zeigt einen potenziellen Ausweg aus der Polarität zwischen Überempfindlichkeit und Rücksichtslosigkeit auf.
Weder will Flaßpöhler das Sensible abwerten, noch glaubt sie daran, dass das Subjekt vor allen Zumutungen geschützt werden sollte. Vielmehr geht es ihr um ein Drittes: die Sensibilität als wichtige Grundbedingung der Vergesellschaftung anzuerkennen, ihr aber eine zweite Qualität, die Resilienz, zur Seite zu stellen. Resilienz werde insbesondere von Linken fälschlicherweise als „neoliberale Selbstoptimierungsstrategie“ missverstanden. Flaßpöhler dagegen will Resilienz als psychisches Vermögen aller Menschen betrachten, das die Zumutungen, die Gesellschaft bedeutet, abfedert. Die Resilienz darf nur nicht verabsolutiert werden. Gleiches gilt für die Sensibilität. „Unzumutbar ist (…) eine verabsolutierte Sensibilität, weil sie den Menschen auf ein verletzliches, schützenswertes Wesen reduziert, das sich nicht selbst zu helfen weiß.“
Hier scheint erneut ein Thema auf, das Flaßpöhler bereits in ihrem letzten Buch, Die potente Frau (2018), thematisierte: ein vehementer Einspruch gegen die Tendenz, Subjekte zu viktimisieren, ihnen Handlungskompetenz und Widerstandsfähiggeit abzusprechen. Unter anderem übte sie Kritik an der Metoo-Bewegung, die Frauen vor allem in ihrer Rolle als Opfer anerkannte. Die Frauenbewegung schreibe Frauen unbewusst noch immer Verletzlichkeit zu. Wenn man aber in dieser (männlichen) Zuschreibung verharrt, bleibt die Forderung nach Autonomie zwangsläufig unerfüllt. Ihr Essay brachte Flaßpöhler teils heftige Kritik vieler Queerfeministinnen ein. Ihr neues Buch zeigt deutlich, dass es keinen Grund gibt, Flaßpöhler als eine Art neoliberalen, gar antifeministischen Beelzebub darzustellen. Philosophisch beharrt sie auf einem liberalen Standpunkt, der dem Subjekt Handlungsmacht zuschreibt.
Flaßpöhler geht auch auf die Debatten um eine vermeintliche „Cancel Culture“ ein, schlägt sich zwar nicht auf die Seite der Polemik, erkennt aber die Gefahr einer Empfindsamkeit, die gar keine objektiven Maßstäbe für Gewalt anerkennt, sondern das subjektive Erleben in den Vordergrund rückt. Sie imaginiert ein Streitgespräch zwischen Friedrich Nietzsche, dem Philosophen der Resilienz, und Emmanuel Lévinas, dem Philosophen der Verwundbarkeit, die trotz der unvereinbar erscheinenden Positionen in einem Punkt übereinstimmen: „Aus der Wunde erwächst die Kraft.“
Flaßpöhler schreibt mit Blick auf Lévinas: „Der Sinn für die Verwundbarkeit des anderen ist es, der den Kern der Humanität und die Triebkraft für gesellschaftliche Transformation darstellt. Wer hingegen die individuelle Widerstandskraft zum obersten und alleinigen Prinzip erklärt, übersieht das Leid der anderen und verfestigt diskriminierende Strukturen.“ Die letzte Bemerkung richtet sich gegen Nietzsche, der allerdings selbst das Gegenteil seines imaginierten Übermenschen ist.
Das Streitgespräch ist die bildliche Übersetzung der dialektischen Struktur des Textes und seines Versuchs einer Synthese. Das ist eine Stärke des Textes, denn die Positionen werden so gut fassbar. Flaßpöhler geht das heikle Thema frei von aggressiver Polemik an. Wobei sie dazu neigt – auch im Sinne einer Entschärfung der Rhetorik –, kritische Punkte eher als Fragen zu formulieren. „Wo fängt Sexismus an: erst beim Griff an den Po oder schon beim Gebrauch des generischen Maskulinums?“ Auch wenn sie zur Veranschaulichung der Genese der Empfindsamkeit des Mannes einen barbarischen Ritter des Mittelalters mit einem doch recht übersensitiven Gegenwartsmann vergleicht, wirkt das etwas plakativ, und man mag hier durchaus eine versteckte Polemik erkennen.
#Metoo im Briefroman
Flaßpöhlers Methodik besteht auch darin, Wellenbewegungen nachzuzeichnen, in denen einmal die Sensibilität, dann wieder radikale Resilienz betont wird. So erscheint die Philosophie Jean-Jacques Rousseaus, der den Mann als verderbtes Produkt der Kultur betrachtet und in der vermeintlichen Natürlichkeit der Frau einen Fluchtpunkt der menschlichen (männlichen) Existenz sieht, als radikaler Gegensatz zum „Pornosophen“ Donatien Alphonse François de Sade, bei dem die reine sittliche Weiblichkeit radikal vernichtet wird. Die zwei Pole der verfeinerten Sensibilität und der Grausamkeit sind aber gar keine Gegensätze; denn de Sades Texte denken die aufklärerische Idee der Freiheit nur radikal zu Ende – und zeigen ihre Grenzen auf. Sie sind aber auch eine Absage an einen vermeintlichen Naturzustand des Friedens und der Unverderbtheit, wie er bei Rousseau ja durch das Weibliche verkörpert wird.
Flaßpöhler geht es einmal mehr um die Zuschreibung der Empfindsamkeit an die Frau, die ihr zutiefst problematisch erscheint. Es ist aber nicht zufällig so, dass eine ganze Reihe von Briefromanen (von Männern) – Flaßpöhler nennt hier das Beispiel von Samuel Richardsons Clarissa aus dem Jahr 1747 – Leser durch Geschichten über Verbrechen an unschuldiger Weiblichkeit zum Mitgefühl und damit zu einem allgemein wachsenden Gefühl der Sensibilität anregt. Clarissas Geschichte ist eine Metoo-Geschichte, wie Flaßpöhler etwas ironisch bemerkt. Und so nimmt die Entwicklung hin zu einem bürgerlichen Gefühl der Sensibilität mit einer Metoo-Geschichte ihren Anfang.
Einen nicht unerheblichen Teil des Buches widmet die Autorin der Frage, ob Grausamkeit im Zuge des „Fortschritts“ reduziert oder vielmehr unterdrückt wird. Und ob sie Teil des natürlichen menschlichen Inventars ist oder erst durch die Kultur befeuert wird. Sie beschreibt Ernst Jüngers Kriegsbegeisterung, ja, die Begeisterung an jenen Momenten, die im Menschen das Rohe zum Vorschein bringen, ihn mit seiner Sterblichkeit konfrontieren und über den Tod, jedenfalls für einen Moment, triumphieren lassen. Die Gewalt erscheint als unheimliche Wiederkehr unterdrückter, unterbewusster Regungen. In diesem Kontext bringt sie auch Sigmund Freuds Betrachtungen zum Trauma der Kriegsheimkehrer ins Spiel. Freuds Ansichten über das Trauma sind für Flaßpöhler interessant, weil er unterstreicht, dass nicht jedes Subjekt gleichermaßen heftig auf potenziell traumatische Ereignisse reagiert. Vielmehr sind es Prozesse im Subjekt selbst, die über den Grad der Traumatisierung entscheiden.
Von dieser Vorstellung wird die Psychologie der 1970er und 1980er Jahre abrücken. Der Fokus wird damit vom inneren Erleben des Subjektes auf die Außenwelt verschoben. Von nun an muss man das Subjekt vor allen Traumatisierungen durch die Außenwelt bewahren. „Die Auswirkungen dieses erweiterten, nahezu grenzenlosen Traumabegriffs sind heute deutlich zu beobachten. Von etwas ‚traumatisiert zu sein‘, wird nachgerade zu einer alltäglichen Erfahrung. Filme, Romane, einzelne Wörter: Nahezu alles kann traumatisieren beziehungsweise retraumatisieren. Wirkliche, schwere Traumata werden durch die inflationäre Verwendung des Begriffs nolens volens bagatellisiert.“ Trigger-Warnungen und sensible Sprache versprechen dem Subjekt eine Immunisierung gegen potenzielle Gewalt. Aber letztlich führe das auf einen Irrweg: „Vulnerabilität ist eine Daseinsstruktur. Sie ist aus der menschlichen Existenz genauso wenig wegzudenken wie reale Verletzungserfahrungen. So gerecht eine Gesellschaft ist, vor Schicksalsschlägen oder wie auch immer gearteter Gewalt wird sie uns nie vollumfänglich schützen können; zumindest dann nicht, wenn wir nach wie vor in Freiheit leben möchten.“
Eines aber unterschlägt Flaßpöhler: dass diejenigen, die sich heute auf radikale Sensibilität berufen, historisch betrachtet unfrei und in ihrer Würde antastbar waren (bisweilen noch sind). Gerade weil die subjektive Freiheit ungleich verteilt ist, bleibt die prekäre Spannung zwischen Sensibilität und Freiheit bestehen.
Info
Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren Svenja Flaßpöhler Klett-Cotta 2021, 240 S., 20 €
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