Warten auf Handke

Debüt Die „Jetzt“-Redakteurin Mercedes Lauenstein schreibt Kurzgeschichten. Die Storys in „Nachts“ sind etwas seicht
Ausgabe 41/2015

Eine junge Frau streift nachts durch die Straßen ihrer Stadt. Wo immer sie ein beleuchtetes Fenster findet, läutet sie und bittet um Einlass. Warum sie das tut, erfahren wir zunächst nicht, denn ihre „Forschungstätigkeit“ ist nur eine der Lügen, die sie ihren nächtlichen Gastgebern auftischt. Welch fundamentaler Ennui muss diese junge Frau antreiben, wenn sie, statt sich zum Beispiel alle Doctor-Who-Staffeln anzuschauen, nachts fremde Menschen besucht? Schließlich könnte man ziemlich viel Zeit mit den 35 Staffeln der Serie totschlagen. Und der zeit- und raumreisende Doktor mit seinen wechselnden Reinkarnationen in immer neuen Schauspielerkörpern könnte womöglich Antworten geben auf die Fragen nach Sinn und Identität, die, so meint man zumindest, die Erzählerin nachts nicht zur Ruhe kommen lassen.

„Die Nacht mag ich deshalb, weil man in ihr viel klarer sieht als am Tag. Was ja der Tatsache, dass es tagsüber hell ist, eigentlich widerspricht“, sagt Gustav, einer ihrer Gastgeber. Tiefschürfender wird’s nicht. Und so reiht der Text 25 Episoden aneinander. Beinahe alle verlaufen nach demselben Muster: Die Ich-Erzählerin erläutert uns einfach jedes Detail ihrer nächtlichen Gastgeber, von der Pulloverfarbe bis zur Anzahl ihrer Perserteppiche. All das tut sie in der immer gleichen Weise, und bereits nach einer Handvoll Erzählungen fühlt man sich erschöpft. Zumal die Fülle der beobachteten Details lediglich ein wachsames Kameraauge simulieren soll. Man erwartet immer wieder, dass eines dieser Details zu einem Motiv entfaltet wird, die Magnolien eine Bedeutung tragen werden (man vermutet nur, dass sie – den Titel eines gleichnamigen Films zitierend – auf filmische Erzählstrukturen verweisen sollen). Aber am Ende riechen sie nur aufdringlich.

Der Leser hat das Gefühl, die Autorin wolle ihn foppen und simuliere unentwegt Bedeutung, wo gar keine ist. Selbst in den Uhrzeiten sucht man nach versteckten Andeutungen (der Text nennt auch explizit magische Uhrzeiten), ist aber bald zu erschöpft, um eine, wie man in Anspielung auf Peter Handke sagen könnte, „Stunde der wahren Empfindung“ tatsächlich zu finden. Und doch gibt es sie ab und zu, diese Handke-Momente. Einer wird ziemlich früh angedeutet, als die Erzählerin eine Spiegelscherbe neben einem Tontopf samt Kaktus findet und ihr Spiegelbild prüft. Hier fallen sie zusammen: ihre Suche und das Ringen um Identität, denn die kleine Scherbe vermag das Ganze nicht zu erfassen.

Irgendwie krass

Dazu sind einfach auch die Charaktere zu schwach; man hat sie schon so oft gesehen, diese unzufriedenen jungen Mütter, die ihre Mutterrolle dann doch nicht so erfüllend finden, und die frisch verrenteten Männer, die es zu Hause nicht aushalten. Und obgleich die Serie in der Erzählung nicht vorkommt: Im Prinzip sind alle Figuren ein bisschen The Walking Dead – zombihafte Charaktere, die den Tropfen Lebenssaft, den sie in sich tragen, ohnehin schon flachen Fernsehcharakteren entliehen zu haben scheinen. Und deren lethargisches Schulterzucken, begleitet von „hm“-Äußerungen, allenfalls die Neugierde des Lesers aufzufressen vermag.

Viele von ihnen sammeln und räumen gerne auf; oder sie reisen. Entweder klammern sie sich an ein vergangenes Leben oder sie suchen nach Aktivität, die ihre Sinnleere füllt. Aber auch das ermüdet. Und das ist nun das allergrößte Problem. So unterschiedlich die Menschen und ihre Geschichten auch sein mögen: Am Ende sind Chiara und Maria und Albert, wer hätte es gedacht, natürlich austauschbar. Denn sie teilen alle dieselbe Sprache, unabhängig von Bildungshintergrund und Alter. Und meist bewegen sich die Dialoge, die ungekünstelt und locker-flott wirken sollen, auf dem Niveau von Neon-Bildergeschichten:

„,Was macht dich so sicher?‘ – ,Mein Gefühl.‘ – ,Du bist krass.‘ – ,Das denkst du so, weil es krasser klingt, als es ist.‘ – ,Hm‘, macht sie, und dann schweigen wir.“

Die Autorin Mercedes Lauenstein arbeitet seit sechs Jahren für die jetzt-Redaktion der Süddeutschen Zeitung. Die Episoden in Nachts ähneln ihren Reportagen, einige zentrale Szenen sind ihnen offenkundig entliehen. Sie werden in ihrem Buch lediglich durch eine etwas willkürlich anmutende Rahmenhandlung verknüpft. Die kann aber nicht verdecken, woran es dem Text schlichtweg mangelt: Leben.

Ein Roman, eine Erzählung kann ja auf zweierlei Arten zum Lesen verführen: durch eine spannende Handlung mit überzeugenden Charakteren. Oder aufgrund einer schönen Sprache, die beim Lesen innehalten lässt. Aber beides vermisst man schmerzlich. Schade, es wäre mehr drin gewesen! Aus den vielen Episoden hätte eine bündige Erzählung mit Klimax und echter Handlung destilliert werden können. Das zeigt die eine Episode, die hängen bleibt, weil sie aus dem Muster ausbricht. Die Erzählerin begegnet dem verrückten Egon. Mit ihm kommt kein Gespräch zustande, weil er nicht verständig ist; die Erzählerin muss sich auf seinen Wahnsinn einlassen. Er sagt, er sei der Tag. Sie spielt mit, und ist für ihn die Nacht. Er sperrt sie auf den Balkon, dann in die Wohnung. Es wird gefährlich. Aber nichts passiert danach mit der Erzählerin. Sie macht unverändert weiter. Nun kann man behaupten, dass das intendiert sei: dass die unveränderte Suche nach zwischenmenschlichen Kontakten etwas über „uns“ aussage. Über unsere Sehnsucht nach unvermittelter, echter Erfahrung. Über unseren Ennui. Über unsere Unfähigkeit, das alles zu ändern. Aber wir wollen doch nicht einen langweiligen Text über die Langweile lesen. Am Ende wünscht man sich, man hätte nachts doch lieber Doctor Who geschaut.

Info

Nachts Mercedes Lauenstein Aufbau 2015, 191 S., 18,95 €

Marlen Hobrack bloggt auf freitag.de

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Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

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