Viel ist die Rede von „Dystopien“, aber so ein wenig ist den Fiktionen über totalitäre Systeme die Schockwirkung abhandengekommen. Totale mediale Überwachung und rechter Populismus sind uns so gegenwärtig, dass wir Fiktionen über dieselben nicht als Warnungen vor einer drohenden Zukunft, sondern als Verweis auf die Gegenwart lesen. So auch in Gudrun Lerchbaums Politthriller Lügenland. Wir befinden uns in einer Zukunft, in der nach einem Bürgerkrieg ein auf Volksgemeinschaft eingestimmtes Österreich seine Einwohner auf Schritt und Tritt überwacht. Die Welt wird beherrscht von territorialen Konflikten. Es tobt ein Kampf zwischen „christlichen“ Ländern und „Kalifat“, und es ist nicht lange her, dass Kalifat-
ass Kalifat-Soldaten vor den Toren Wiens standen. Da blieb den Bürgern nur das Verminen der Vorgärten. Minen und Mimosen, all das klingt nach der Schreckensfantasie eines Pegida-Anhängers.Ganz auf den identitären Volkskörper eingestimmt ist auch Ex-Milizsoldatin Mattea. Gerade aus ihrem Militärdienst entlassen, bereitet sie sich nun auf ihre Hochzeit vor. Der Staat hat für sie einen passenden Partner arrangiert. Mattea weiß, dass ihr Körper dem Regime gehört. Als Kampfmaschine und Gebärmutter. Rechtspopulismus und restauriertes Patriarchat brauchen einander.Die Parolen des Systems sind eine Mischung aus nationalsozialistischer Propaganda und neurechter Rhetorik. Mattea glaubt ihnen; auch für sie ist der Kanzler ein Heilsbringer, der in kriegerischen Zeiten Frieden geschaffen hat. Auf Kosten der Freiheit natürlich. „Wenn das der Kanzler wüsste!“, hört man in ihrer Welt oft.Dann zerreißt ein einziger Schuss Matteas Welt. Scheinbar ohne Grund erschießt Mattea ihre Freundin und muss schließlich von ihrer eigenen Hochzeit fliehen. Sie flüchtet in die totale Gegenwelt, den Wald. Der ist mal Locus amoenus, mal Locus terribilis, Ort der Schönheit oder des Schreckens, und erinnert nicht wenig an den Wald in Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen. Mattea flüchtet sich wie das Rotkäppchen zu ihrer Großmutter, nicht aber ohne zuvor dem bösen Wolf in Menschengestalt zu begegnen.Dann geschieht das Unmögliche: Zeitgleich mit Mattea befindet sich eine junge Widerstandskämpferin auf der Flucht durch Österreich. Ina Matusek, so heißt sie. Mattea Inninger, Ina Matusek. Neben den Namen mit vertauschten Initialen sorgt auch die unheimliche Ähnlichkeit zwischen den beiden bald für Verwirrung. Nicht nur bei Staat und Medien. Auch die Großmutter zweifelt an Matteas Identität.Weil Mattea für Ina und Ina für Mattea gehalten wird, muss die regimefreundliche Soldatin Mattea von der Widerstandstruppe beschützt werden. Nicht um Mattea zu retten, sondern um den Propagandakampf zu gewinnen. Hier nun bekommt das Spiel mit den Lügen eine neue Dimension: Mattea muss glaubhaft machen, dass sie Ina ist. Darüber wachsen ihre Zweifel, ob sie wirklich Mattea ist, immer weiter. Im Grunde mutiert der Thriller hier zum Psychothriller. Mit dem, was Mattea für politische Wahrheiten hielt, geht auch Matteas Identität verloren.Sie ist Doppelagentin und doppeltes Lottchen zugleich. Immer größer wird das Problem, zu beweisen, wer sie wirklich ist. Ganz wie in Adalbert von Chamissos Gedicht Erscheinung, in dem das lyrische Ich mit einem Doppelgänger konfrontiert wird, scheint sie das eigene mediale Spiegelbild zu befragen: „Wer bist du, Spuk?“Interessanterweise sind das Spiel mit der Doppelgängerin und die Verwirrung über die Frage, wer wann warum lügt, weitaus spannender als das umgebende Politszenario, das ein entscheidendes Manko hat: Es ist zu holzschnittartig. Der in Wahrheit so sadistische Kanzler hat neben realen historischen Vorbildern starke Ähnlichkeiten zum Beispiel mit dem Kanzler Palpatine in Star Wars. Die grauhaarige Widerstandskämpferin Ruth, deren eigener totalitärer Macht- und Wahrheitsanspruch immer wieder durchblitzt, erinnert an Präsidentin Coin aus der Tribute von Panem-Trilogie. Dass Mattea auch noch eine Liebesgeschichte durchlebt, ganz wie eine typische Hollywoodheldin, sich dabei unfreiwillig zur Anti-Heldin entwickelt, macht die Sache nicht besser.Mediale MatrizenNun könnte das Absicht sein. Gerade in der Verdopplung der Hollywoodhelden könnte man ein weiteres Doppelgängermotiv sehen. Leider hat man dadurch aber das Gefühl, man habe diese Geschichte schon unzählige Male gelesen. Das ist schade für die sonst packend und rasant erzählte Story. Ob zudem die Bezeichnung „Politthriller“ günstig gewählt ist, darf man bezweifeln. Zwar ereignet sich die Lüge auf dem Feld der Politik. Aber der Text dringt nicht tief in diese Welt hinein. Im Grunde genommen ist der Roman ein Medienthriller, in dem das Ich zum Doppelagenten wird. Die wiederkehrenden Märchenmotive im Text in ihrer Verschaltung mit Medienkritik lesen sich wie eine Antwort auf Friedrich Kittlers Analyse zum Doppelgängermotiv in Romantik, Psychoanalyse, Film. In der schreibt er: „Medien sind eine historische Eskalation von Gewalt, die die Betroffenen zu totaler Mobilmachung zwingt.“Die Volksmärchen, die die Romantik einst sammelte, fanden in den Hollywoodgeschichten von Helden und Anti-Helden ihre Doppelgänger, die ihrerseits mediale Matrizen sind. Der Zauberspiegel aus dem Märchen hat sich in eine Mediawand verwandelt. Sie bestimmt, was Wahrheit und Lüge ist. Und schließlich sogar, wer man selbst ist.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2