Wer hat Angst vorm Ich?

Ego-Romane Der Trend zum Ich-Roman – wahlweise als fiktionalisierte Biografie oder biografische Fiktion - hält an. So mancher Kritiker beklagt den Verlust der reinen Fiktion

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So ichbezogen war die Literatur noch nie! Autoren verwandeln ihre Lebensgeschichten in Bücher, und Leser zeigen sich begeistert von den vermeintlichen literarischen Selbstentblößungen, die sich mit dem Stichwort „Roman“ maskieren. So mancher Kritiker – zuletzt Samuel Hamen im Literaturmagazin tell – findet den Verlust der Fiktion, wie er sich am deutlichsten bei Karl Ove Knausgård offenbart, beklagenswert.

Die von so manchem Kritiker rasch gestellte Diagnose lautet, dass Autoren, die sich monomanisch mit sich selbst beschäftigen, narzisstisch seien. Dabei ist das Sezieren des eigenen Ichs die Sache des Narzissten gerade nicht. Das narzisstische Ich nutzt kompensatorische Strategien, um die Auseinandersetzung mit sich selbst zu vermeiden. Es sonnt sich in Größenfantasien, um Selbstzweifel und Selbsthass auszublenden. Ein Autor aber, der sich mit seinen Abgründen und „Dämonen“, oder ganz banal mit dem alltäglichen Leiden an sich selbst auseinandersetzt, betreibt keine kompensatorische Handlung. Wollte man dieser Literatur also einen Stempel verpassen, sollte man sie vielleicht als „egozentrisch“ etikettieren, wobei egozentrisch nicht gleichbedeutend mit „egoistisch“ ist.

Die Ego-Literatur ist vielleicht tatsächlich das Produkt einer narzisstischen Gesellschaft, wie sie Hans-Joachim Maas diagnostiziert. Aber eben nicht als Beweis der oberflächlichen narzisstischen Selbstbespiegelung, sondern in Form des Gegenteils: Als gründliche Befragung der Tiefenschichten des Ichs in einer Zeit, die daran schon deshalb kein Interesse haben kann, weil das selbstreflektierende, zaudernde Ich eher keinen großen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leisten kann.

Zugleich sollten Literaturkritiker die Letzten sein, die die literarische Selbstbehauptung des Ichs als narzisstisch abtun, sind sie doch die ersten, die bei der Kritik eines Werkes, auch dann, wenn es sich als reine Fiktion darstellt, danach fragen, welche Komplexe und Neurosen des jeweiligen Autors die Ausgestaltung des Werks beeinflussten. Elena Ferrantes wahre Identität wurde wohl aus genau diesem Grund enttarnt: Um die Frage nach der Beziehung von Text zu Autor endlich erörtern zu können. Man denke zudem an Martin Walsers jüngsten Roman, der von Kritikern auch als persönliche Abrechnung des gelränkten Autors Walser gelesen wurde.

Überhaupt scheint die Kritik an der Ich-Literatur die Realität des Schreibens zu verkennen: Denn der Autor ist keine Schreibmaschine oder, um es moderner auszudrücken, keine Software, die auf Basis von Algorithmen Wörter zu Texten kompiliert. Ich-Bewusstsein und Unterbewusstsein schreiben immer mit, ob nun im Tagebuch oder im fiktionalen Text. Wer also beklagt, dass es der Selbstbeschreibung an Fiktionalisierung mangele, verkennt, dass das Ich, sobald es sich auf der weißen Seite behaupten muss, verwandelt. „Ich“ ist eben nicht mehr „Ich“, wenn es getippt, gedruckt und gelesen wird, weil es sich fortan der symbolischen Ordnung der Sprache fügen muss. Diese öffnet zwischen gelebtem und geschriebenem Ich einen Spalt, der sich zu enormen Räumen auswachsen kann. Macht es dann also einen Unterschied, ob der Schreibende sich in ungezählten Charakteren maskiert, oder gleich das eigene Ich beschreibt?

Wie viel Fiktion darf es denn sein?

Eng damit verbunden ist die Frage nach der Funktion der Fiktion: Wozu braucht es die Fiktion überhaupt? Eine potenzielle Antwort lautet, dass die fiktionale Literatur es uns ermöglicht, das Unmögliche zu denken und zu beschreiben. Was undenkbar ist, bestimmen aber die Zeit, in der das Autorensubjekt lebt, und die darin vorherrschenden Episteme. Was wäre denn heute noch undenkbar? Spätestens seit dem 11. September 2001 scheint es das Undenkbare, und damit nicht zu antizipierende Ereignis, nicht mehr zu geben. Das hat Konsequenzen für fiktionale Texte. Jean Baudrillard erinnert in seinem Text „Das Jahr 2000 findet nicht statt“ an einen Gedanken Canettis, wonach man meinen könnte, die Menschheit habe die Wirklichkeit an einem bestimmten Zeitpunkt verlassen, und die nun zu beobachtenden Ereignisse seien – was? Fiktion?

Und wie steht es um das neuerdings nur noch belächelte Diktum Francis Fukuyamas vom Ende der Geschichte? Mehr denn je kristallisieren die Ereignisse zu Geschichte. Wie kann sich die Literatur, die Geschichten schreibt, dazu verhalten? Derzeit reagiert sie offenkundig mit der Arbeit am Ich-Roman, an der fiktionalisierten Biographie, in der das Nicht-Ereignis, also das eigentlich Alltägliche (selbst Abstürze und Depressionen sind so ungewöhnlich und singulär nicht), über das undenkbare Ereignis triumphiert.

Dass im Ich-Roman ausgerechnet der Autor-Erzähler über die fiktionale Ereigniskette triumphiert, darf man zudem als Antwort auf den postulierten Tod des Autors lesen. Ja, er lebt noch! Er mag saufen, koksen, Nutten buchen, abstürzen, manische Schübe haben, aber er erzählt. Natürlich hat selbst Michel Foucault, mit dem das Diktum vom Tod des Autors ja verknüpft ist, nie bestritten, dass es am Ende eben doch eines schreibenden Subjekts bedarf. Foucaults eigentlicher Gedankengang in diesem Zusammenhang lautet anders. Er argumentiert, dass die Zuordnung eines Textes zu einem Autor den Diskurs verknappe, da als „Sinn“ des Textes nur das gelesen werde, was auf das Autorensubjekt bezogen werden könne. Man denke hier nochmals an das oben genannte Beispiel Walser.

Wenn der Autor in diesem Sinne aber immer schon den Sinn limitiert (trotz aller Versuche der Beseitigung), warum sollte er nicht gleich in Personalunion mit Erzähler und Erzähltem auftreten? Im Ich-Roman kann man gewissermaßen das Gegenteil des in postmodernen Romanen so häufig zu beobachtenden Zerfalls des Erzählers oder Protagonisten beobachten. Der Zerfall betrifft nicht nur die Psyche der Charaktere (als müssten Es, Ich und Über-Ich der Übersichtlichkeit halber in unterschiedliche Leiber ausgegliedert werden), sondern auch den Subjektkörper. Häufig kommt bei dieser Gelegenheit auch gleich noch das Geschlecht abhanden. Entwicklungslinien dieser postmodernen Zerfälle ziehen sich bis zu Thomas Meineckes aktuellem Roman „Selbst“.

Was den postmodernen Roman anbelangt, maximiert der Zerfall von Erzähler oder Protagonist auf der Ebene des Textes den Sinngehalt. Zugleich aber stellt der Text dadurch permanent seine Gemachtheit und Künstlichkeit aus, was auf Ebene der Fiktion eher eine Störung darstellt. Im postfiktionalen Ich-Roman dagegen verwickeln sich schreibendes Ich, Erzähler und Ereignislosigkeit unlösbar zur Fabel vom Ich, das damit wieder zum Herrn im eigenen Haus wird. Dabei handelt es sich um eine radikale Sinnverknappung, die nicht nur alle hermeneutischen Versuche sinnlos macht (da der Sinn nicht mehr verborgen ist, sondern offensichtlich). Sie lenkt den Fokus auch und vor allem auf das eigentliche Arbeitsmittel des Schreibenden: die Sprache. Das Ich geht ganz in der symbolischen Ordnung auf.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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