Wo geht’s hier zum Unbewussten?

Psychoanalyse "Die Traumdeutung" wird 116 Jahre alt. Ihr Erfinder Sigmund Freud bewies mit der Veröffentlichung gehörige Chuzpe

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Was hat es überhaupt mit der Traumdeutung auf sich?
Was hat es überhaupt mit der Traumdeutung auf sich?

Bild: Hans Casparius/Hulton Archive/Getty Images

Erzähl mir von deinen Träumen, und ich sag dir, wer du bist. So oder so ähnlich könnte man den Grundgedanken der Traumdeutung formulieren. Erzähl mir von deinen Träumen, und ich sag dir, dass du deine Mutter insgeheim tot sehen willst. Auch so könnte man die Traumdeutung beschreiben, als Karikatur, als Witz. Ein Witz, der ziemlich wirklich ist. In seinem heute vor 116 Jahren veröffentlichten Text „Die Traumdeutung“ macht Sigmund Freud nämlich genau das: Er zitiert den Traum einer Frau, die ganz aufgelöst und schamerfüllt zu ihm kommt. Die Frau sieht in ihrem Traum einen Luchs oder Fuchs auf dem Dach spazieren. Dann fällt etwas oder sie (wer kann das im Traum schon genau sagen?), und dann wird die Mutter tot davongetragen. Freud deutet diesen Traum nicht nur als Ausdruck des Kindheitswunsches der Frau, die eigene Mutter „tot zu sehen“. Er sagt uns auch, dass dies doch offensichtlich sei.

Das ist starker Tobak. Chuzpe. Wie ja insgesamt vieles bei Freud schwer zu verdauen ist, in seiner Zeit, bis heute: Dass unser erstes Begehren, noch in zarter Kindheit, auf das gegengeschlechtliche Elternteil gerichtet sein soll. Dass wir, von Anfang an, sexuelle Wesen sein sollen, dass Lust und Lustprinzip, Triebe und Triebunterdrückung unser Leben strukturieren, unser Selbst formen. Ganz nebenbei zertrümmert Freud das Individuum, das dem Wortsinne nach doch „unteilbar“ ist, zergliedert es in Es, Ich und Über-Ich. So wird die Psychoanalyse, diese ominöse Lehre vom ganzen Menschen, seinen Abgründen und Tiefenschichtungen, zu einer Lehre vom kaputten Menschen.

Aber wie entwickelt sich die Wissenschaft von der seelischen Krankheit zu einer Wissenschaft vom Subjekt der Moderne? Obendrein mithilfe eines Verfahrens, das scheinbar nicht den Anforderungen einer empiristischen Wissenschaft genügt? Denn die Psychoanalyse kann gerade nicht auf Versuchsreihen, auf reproduzierbare „Studien“ zurückgreifen, sie hat keine mit Apparaturen messbaren Parameter zur Grundlage. Sie ist Rede und Dialog. Sie basiert wesentlich auf der Figur des verstehenden, zuhörenden, auch interpretierenden Analytikers, der Analytikerin. Und kann dieser nicht, wie in dem unerhörten Beispiel oben, ganz einfach „Sinn“ und „Zusammenhang“ konstruieren, wo keiner ist? Was schützt uns denn vor der Willkür, dem Größenwahn des Analysierenden, seinen Einflüsterungen, seiner Chuzpe? Und was ist mit dem größten Skandalon der Psychoanalyse: Der Behauptung nämlich, dass aus der Rede des Kranken eine Wahrheit über den Menschen, ein allgemeines Apriori des Subjekts abzuleiten sei? Dass der Fiebertraum des Neurotikers eine Wahrheit über uns alle offenbaren könnte? Sigismund Schlomo Freud: Es gibt Redebedarf!

Wo geht’s hier zum Unbewussten?

Eine Versuchsanordnung: Man lege sich auf eine Couch und erzähle von seinem Traum. Man trage – ungeniert und völlig „frei“ – jeden Gedanken, der sich aufdrängt, dem Analysierenden vor. Hier bekommt die Rede des Arztes „bitte mal obenrum frei machen“ eine ganz neue aufregende Bedeutung. Nein nein, man wird nicht einfach alles ungeniert offenbaren können. Selbst in dem Schweigen, den vielsagenden Versprechern, die heute untrennbar mit Freuds Namen verbunden sind, wird der Analytiker nach Bedeutung bohren, wie ein Archäologe nach Schätzen graben. Oder Abfälle bergen. Hauptsache, es ist der Sache dienlich. Was ist die Sache? Nichts Geringeres als die Analyse ungeheuerlicher Triebe und Wünsche. Für Freud ist schließlich jeder Traum Wunscherfüllung.

Was hat es überhaupt mit der Traumdeutung auf sich? Sigmund Freud versteht den Traum als „via regia zum Unbewussten“. Im Traum offenbart sich das Verdrängte, wird vorbewusst, stößt jedoch auf den Widerstand des Ichs. Und nun beginnt die Traumentstellung: Wie ein Autor, der einen strengen Zensor umgehen will, und deshalb sein sozialkritisches Stück kurzerhand zweitausend Jahre in die Vergangenheit verlegt, maskiert sich der Trauminhalt; das unbewusste Material wird entstellt. So ist das, was wir nach dem Aufwachen von unseren Träumen erinnern, nie der wirkliche Trauminhalt, sondern immer nur das entstellte, verzerrte Abbild desselben. Wie ein Archäologe muss der Analysierende also den latenten Trauminhalt erst Schicht um Schicht offenlegen.

Wer Träume deutet, der taucht tief hinab in einen Rebus, ein Bilderrätsel. Dem Traum ist mit den Methoden der Hermeneutik und mit ihren bewussten Verstehensoperationen nicht beizukommen, denn er bedient sich ja der Sprache des Unbewussten. Und dessen Sprachlogik ist vor allem die des Verschiebens, der Metonymie also. Von einer Verschiebung gelangt man zu der nächsten. Analytiker und Analysierter hangeln sich an einer Kette von Metonymien tief ins Unbewusste hinab. Was für ein Abenteuer! Denn wer weiß schon, auf welche Abgründe er dabei stößt? Und welche Spalten und Gräben sich tief im Selbst, im Individuum, nein: in uns auftun.

Wie aber lässt sich nun erkennen, dass der Analytiker die tatsächliche Bedeutung des Traumes erkannt hat, und der Sinnzusammenhang nicht etwa nachträglich durch den Analytiker mithilfe etwaiger „Kunstgriffe“ konstruiert wurde? Es ist vor allem die Reaktion des Patienten, die Aufschluss darüber gibt, ob der wirkliche Trauminhalt erkannt wurde. Wenn in dem Prozess der freien Assoziation immer mehr vergessen geglaubte Erinnerungen auftauchen, wenn der Patient sich ergriffen fühlt, dann wurde der Kern des Verdrängten berührt. Der einzige Maßstab für die Richtigkeit der Deutung ist daher die Bedeutung der Deutung für den Patienten.

Ist das nicht paradox? Ist es nicht geradezu infam, die Ergriffenheit des Kranken zum Maßstab für den Grad an Wahrheit zu machen, der in der Analyse „produziert“ wird? Jawohl! In der Tat vollzieht die Psychoanalyse in der Traumdeutung eine absolute Kehrtwende im Umgang mit der Rede des psychisch Kranken. Michel Foucault analysierte die Ausschließungsprozeduren, die „Wahnsinn und Gesellschaft“ zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert voneinander schieden. Die Psychoanalyse durchbricht diese Ausschließungsprozeduren: Indem sie den Neurotiker nicht nur sprechen lässt oder ihn zum Sprechen auffordert, sondern ihm auch zuhört. Mehr noch: Der Psychoanalytiker verspricht dem Patienten, nicht zu werten.

Das mag auf den ersten Blick banal erscheinen, verändert aber nachhaltig die Bedeutung der Worte des Kranken: „Aus den sogenannten Leiden und Delirien der Hysterikerinnen wird schlicht eine Rede“, wie es Friedrich Kittler in seinem Vorwort zu der „Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“ feststellt. Das heißt ja nichts anderes, als dass die Rede des Wahnsinnigen genauso viel oder wenig Wahrheit produziert wie die des Gesunden. Das heißt aber auch, dass die „Abfälle“ des Sprechens, das scheinbar sinnlos Gestammelte, die Versprecher und die vergessenen Worte: kurz, dass all die Dinge, denen wir für gewöhnlich keine Bedeutung zumessen, Bedeutungsträger sind, die fortwährend im und vom Subjekt produziert werden. So entsteht ein unendlicher, lesbarer Text, der vom Subjekt kündet. Und dieses Subjekt lässt sich nicht mehr einfach in „krank“ oder „gesund“ aufspalten; der psychisch Kranke ist nicht mehr das absolut Andere. Der Kranke unterscheidet sich vom Gesunden nur noch in den Reaktionsbildungen auf dieselben unbewussten Triebe. Aus der absoluten Differenz zwischen Kranken und Gesunden wird eine prinzipielle, strukturelle! Gleichheit. Und gerade deswegen kann die Rede des Kranken eine Aussage über jedes menschliche Subjekt formulieren.

Zugleich produziert der Kranke aber eine Wahrheit im außermoralischen Sinne. Das natürlich führt uns zurück zu Nietzsche - dem ersten großen Zertrümmerer vor Freud-, der vier Jahrzehnte früher bemerkte:

„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken […]“

(Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn)

Wahrheit ist nichts anderes als eine Illusion; ein Traum. Und das Wissen über das Subjekt immer nur vorläufig. Dass man auf der methodischen Grundlage der Befragung des Unbewussten im Traum kein „letztes Wissen“ von den Subjekten erlangen kann, ist kein Mangel der Theorie, sondern ihre eigentliche Stärke: Denn so lagert sich Schicht um Schicht neue Erkenntnis um altes Wissen herum an – oder verdrängt dieses. Die Psychoanalyse ist in diesem Sinne eher „Erkenntnistheorie und Denkmethode“ (Lilli Gast), und damit weit mehr als therapeutische Praxis. Und genau deswegen sprengte die Psychoanalyse die Grenzen zwischen Therapie und Kultur, zwischen Wahnsinn und Gesellschaft.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

Was ich werden will, wenn ich groß bin: Hunter S. Thompson

Marlen Hobrack

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