Zonenkind mit Aschenputtel-Komplex

Ausländerhass Sachsen könnte so schön sein. Wenn da nicht seine Bewohner wären. Eine Wanderung durch die sächsische Seelenlandschaft

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https://s-media-cache-ak0.pinimg.com/originals/bd/e9/8f/bde98f69604ac454d43539263d645030.pngFoto: Marlen Hobrack

Ach, die sächsische Landschaft! Ich wandere durch das Elbsandsteingebirge, sehe windschiefe Baumstämme, die sich wie Knüppelärmchen gen Himmel recken, glatt geschliffene Sandsteinplateaus wie kahl rasierte Schädel mit schwarzen Augenhöhlen. Etwas gruselig. Man fühlt sich gleich an Herr der Ringe-Landschaften erinnert und hält spontan Ausschau nach Orks und Elben (Wussten Sie übrigens, dass J. R. R. Tolkiens Vorfahren Sachsen waren? Und dass „Tolkien“ tatsächlich die sächsisch modifizierte Aussprache von „tollkühn“ darstellt?). Egal, die Glatzen mit finsteren Augen, vor denen man sich hier fürchten müsste, wandern für gewöhnlich nicht im Gebirge.

Hier, wo die dichte Nebelsuppe durch Täler wabert, entsteht schnell eine Mischung aus Kleinheitsgefühl und Ehrfurcht vor der Schöpfung. Das setzt ästhetische Schöpferkraft frei. Auch deswegen war Sachsen mal Avantgarde: Während Caspar David Friedrich durchs Nebelmeer wanderte, studierte Novalis Bergbau in Freiberg. Carl Gustav Carus verband Kunst und Medizin, Tieck hielt Hof in Dresden. Schöne Romantik.

Die Schönheit Sachsens steht im auffälligen Kontrast zu seinen Bewohnern. Das ist nun tatsächlich sehr ungerecht, möchte man sagen, was können denn die Bewohner für die rechten Nasen, die hier und dort ihr Unwesen treiben? Schließlich sind ja nicht alle Sachsen Nazis! So bizarr es auch klingen mag: Sachsens Problem sind nicht seine Nazis. Oder sagen wir: Das Naziproblem in Sachsen ist nicht größer als anderswo in Deutschland. Das Problem ist die sächsische Mehrheitsgesellschaft, die bestenfalls wegschaut, wenn Fremde und Schwache bepöbelt und angegriffen werden, und im schlimmsten Fall grölend jubelt, wie 1993 in Hoyerswerda.

Rechte, Pegidisten und Legidisten, so geht die sächsische Mär, seien nichts weiter als ein paar Wendeverlierer. Bodensatz, Pöbel eben, doch keine aufrechten sächsischen Bürger! Wer hier lebt und mit Sachsen spricht, wird aber rasch feststellen, dass sich Pegidas Argumente mit der Meinung der meist schweigenden Mehrheit decken. Diese Mehrheit verletzt niemanden, sie prügelt nicht. Sie stiftet nicht an, aber duldet, indem sie wegschaut.

Das zeigt sich in Freital, wo sich die Zivilgesellschaft wegduckt und Politiker Farbe bekennen, indem sie schweigen. Das zeigen die national befreiten Zonen, die keine Bürgerschaft empören. Man engagiert sich nicht gegen pöbelnde Rechte, man fühlt sich lieber angegriffen, wenn das rechte Problem beim Namen genannt wird, und wendet den Zeigefinger gen Westen: „Nazis habt ihr doch auch!“ Und: „Zustände wie bei euch wollen wir auf keinen Fall!“ Denn Städte wie Frankfurt und Offenbach, Aachen und Köln mit ihren „Türkenvierteln“ sind Schreckbilder hier in Sachsen.

Bestimmte Argumente und Denkmuster ziehen sich wie ein roter Faden durch Gespräche, wenn ich mit Sachsen über Flüchtlinge und Ausländer spreche. „Muss man nicht Mitleid haben mit den Kriegsflüchtlingen?“, frage ich die 80-jährige Oma, die selbst einmal Kriegsflüchtling war. Ihre Miene wird hart, ihre Stimme schneidet, so kalt klingt sie: „Mit uns hatte auch niemand Mitleid, als meine Mutter und ich vor den Russen wegliefen!“

„Für uns hat der Staat auch nichts übrig“, sagt die Hartz IV Empfängerin, während sie durch das Programmmenü ihres Flachbildfernsehers zappt. „Warum soll ich die von meinen Steuern finanzieren?“, fragt die 50-jährige Akademikerin mit zwei abbezahlten Eigentumswohnungen in bester Innenstadtlage. „Wenn du denen helfen willst, kannst du sie ja bei dir aufnehmen“, sagt mir der 40-jährige Familienvater mit Häuschen im Grünen.

Widersprüchliche Argumente werden gewälzt: Die Anderen nehmen „uns“ die Arbeitsplätze weg. Die Anderen sind arbeitsscheu. Die Anderen sind ungebildet. Die gebildeten Anderen werden in ihren Heimatländern gebraucht. Die Anderen können nur Kinder machen. Solche Kinder kann der deutsche Staat nicht gebrauchen. Soll er doch lieber den Deutschen das Geld fürs Kindermachen geben.

Der Begriff Flüchtling wird vermieden, meist sind es die Ausländer, oder auch nur die: Die Anderen, die Fremden, die Schmarotzer. Das Wörtchen die wird durchgekaut, ausgespuckt.

Aber all diese Menschen wählen nicht NPD; die meisten sind Wähler der Linken, was paradox erscheint, weil sich die Linke – neben den Grünen – in Sachsen am deutlichsten gegen Rechte und für Asylbewerber positioniert. Erklärbar ist es trotzdem, weil die Linke (und davor die PDS) die Partei der Zu-kurz-Gekommenen ist. Nicht die Partei der Verlierer, sondern der Gekränkten.

Je länger man zuhört, desto häufiger fällt ein Satz: Für uns hat der Staat doch auch nichts übrig!

Der Aschenputtel-Komplex

Es ist die Klage eines Kindes mit Aschenputtel-Komplex: Ein Kind, das immer brav ist und sich abmüht, das Mutti und Vati gefallen will, und dem doch keine Beachtung geschenkt wird. Der Musterknabe, der nicht bekommt, was er verdient: Anerkennung. Der hartherzige Vater Staat schenkt seine Zuwendungen, die doch eigentlich ihm, dem Zonenkind zustünden, einem anderen. Und das, obwohl dieses andere Kind so fremd ist. Das Zonenkind ist eifersüchtig.

Es hat ja alles getan, um seine offenkundigen Mängel auszugleichen. Nun ist Sachsen Klassenprimus unter den Zonenkindern, Musterknabe mit saniertem Staatshaushalt (nicht ganz ohne finanzielle Zuwendungen des lieblosen Vaters freilich, denn der sächsische Staatshaushalt finanziert sich nicht einmal zur Hälfte aus eigener Kraft) und tollem Bildungssystem. Und doch fühlt sich das Zonenkind von der bösen Stiefmutter ungeliebt. Es quengelt und nörgelt. Es leidet.

Der missliebige Fremde erzeugt akuten Unwillen. Das Zonenkind, das auf so wenig Gegenliebe stößt, reagiert prompt mit Hartherzigkeit.

Zur Nächstenliebe, sagte Erich Fromm, sei nur fähig, wer sich selbst liebe. Wer sich selbst verachte, der könne den anderen nicht lieben. Nicht den Nächsten, nicht den Fernsten. Nächstenliebe bedeutet, im Fremden das verbindende Element entdecken zu können. Durch alle äußerliche Fremdheit hindurch zum Kern des anderen – seiner Menschlichkeit - vorzustoßen, und damit in Verbindung zu treten. Aber das ewige "die" (die Ausländer, die Fremden) entkleidet die anderen ihrer Menschlichkeit und Würde.

Die da drüben

Ich lese neuerdings häufig auf Facebook, dass die da drüben – gemeint sind wir Sachsen - sich verdammt noch mal zusammenreißen sollten. Man habe die ja auch mal großzügig aufgenommen. Was erlauben die Sachsen sich nun also mit den Asylbewerbern? Ob man die Sachsen nicht auch irgendwie ausschließen könne, aus Deutschland, der EU? Ein Säxit also. Ob Tschechien uns Sachsen adoptieren würde, bleibt jedoch fraglich.

In all diesen Scherzen offenbart sich offenkundig ein Fünkchen Wahrheit: Das Zonenkind ist dem westdeutschen Herzen auch nicht näher, als jeder andere Fremde. Zwischen Spott und Wut über den Sachsen schwingt auch eine Fremdheitserfahrung des Westens mit. Türken und Araber sind längst Teil der Westkultur. Der Zoni ist es nicht. Dem Westen ist der Ossi – zumal der Sachse mit seinem unverständlichen exotischen Dialekt, der im Fernsehen gerne mit Untertiteln versehen wird, noch immer ganz und gar fremd.

Ferner Osten, ach so nah. Ob ich nun in Aachen oder in Berlin bin: Ich höre immer wieder, man habe schon immer mal nach Sachsen kommen wollen. Aber irgendwie sei man noch nie dazu gekommen. Das klingt so, als liege Sachsen irgendwo in der Walachei oder im Himalaja (mieten Sie sich vorsichtshalber einen Scherpa, wenn Sie hier herkommen wollen!). Ein bisschen mehr Interesse für den ostdeutschen Nachbarn und seine Befindlichkeiten könnte nicht schaden.

Aber wie kann man den Sachsen nun von seinem Fremdenhass heilen? Ganz einfach: Der sächsische Patient muss dringend auf die Couch! Seine Komplexe durcharbeiten. Vergangenheit bewältigen. Die immer wieder eingeforderte Anerkennung der Lebensleistung der Menschen im Osten ist nur ein Trostpflaster fürs Aschenputtel-Gemüt. Stattdessen müssten sich die Sachsen (wie auch der Rest der Ossis) mit der eigenen Vergangenheit und dem plötzlichen Biografie-Bruch, der viele Menschen so tief verunsichert hat, aussöhnen.

Viele Ostbürger betrügen sich gerne mit der Vorstellung, ihr Leben wäre besser verlaufen, wenn nicht alle Kontinuitäten weggebrochen wären. Dass nur sie eine bittere Pille schlucken mussten und es unnötig schwer hatten, während es anderen leicht gemacht werde. Sie baden in Selbstmitleid, das ihren Selbsthass kaum kaschiert.

Der sächsische Komplex ist nicht unheilbar. Man beginne die Therapie mit einem ausgedehnten Spaziergang. Zum Beispiel in der Sächsischen Schweiz. Dort, als Wanderer über dem Nebelmeer, wird dem vernebelten Sachsen womöglich Vernunft eingehaucht. Man wird ja wohl noch träumen dürfen!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Marlen Hobrack

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Marlen Hobrack

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