Es fehlt der politische Wille, auf dem Mittelmeer Migranten in Seenot zu helfen

Meinung Nach dem Tod von über 60 Migranten vor der italienischen Küste sprechen viele von einer Tragödie. Europäische Regierungen und die EU-Kommission bleiben diesem Narrativ auch deshalb treu, weil es Ohnmacht vortäuscht
Ausgabe 09/2023
Angehörige trauern in einer Sporthalle der italienischen Gemeinde Crotone um die Toten des verheerenden Schiffsunglücks vor der Küste
Angehörige trauern in einer Sporthalle der italienischen Gemeinde Crotone um die Toten des verheerenden Schiffsunglücks vor der Küste

Foto: Stringer/Ansa/AFP/Getty Images

Müssen Menschen buchstäblich vor der Kamera sterben, damit ihr Tod als Tragödie gilt? Bei einem Bootsuntergang vor Italiens Küste sind über 60 Flüchtlinge ums Leben gekommen – darunter zwölf Kinder, auch ein erst wenige Monate altes Baby. Staatspräsident Sergio Mattarella nennt es eine Tragödie. Tatsächlich ist das Sterben im Mittelmeer eine permanente Tragödie, nur dringen die Nachricht darüber nur an manchen Tagen zu uns durch. Im Vorjahr ertranken etwa 2.400 Migranten. Als im April 1912 die Titanic sank, kamen 1.514 der 2.200 Passagiere ums Leben. Inzwischen versinkt also pro Jahr die Titanic mehr als einmal im Mittelmeer, in dessen Fluten seit 2014 über 25.000 Menschen verschwanden. Die Tragödie ist nicht einfach ein Unfall, sondern Ergebnis politischer Entscheidungen.

So war es Sergio Mattarella selbst, der kurz vor dem Unglück ein Dekret unterzeichnete, das die Arbeit ziviler Seenotretter erschwert. Das zentrale Mittelmeer, durch das eine der tödlichsten Fluchtrouten führt, wird so noch gefährlicher. Aber es wäre zu einfach, einzig Italien die Schuld zu geben.

In ihrem Koalitionsvertrag schreibt die Regierung Scholz, es sei „eine zivilisatorische und rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen“. Man strebe eine staatlich koordinierte, europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer an. Passiert ist seither nichts. Im Gegenteil, inzwischen verdichten sich die Anzeichen, dass das Bundesverkehrsministerium die Schiffssicherheitsverordnung ändern will, was erhebliche Auswirkungen auf die Boote ziviler Seenotretter haben dürfte. Sie könnten mit kaum erfüllbaren Auflagen belegt werden.

Während die EU-Außengrenze vielerorts gesichert wie ein Gefängnis ist mit Wachtürmen und Drohnen, fehlt es an Vorkehrungen, Migranten in Seenot zu helfen. Man könnte das als Tragödie bezeichnen, handelte es sich in Wahrheit nicht um systematisch unterlassene Hilfeleistung, deren sich die gesamte EU schuldig macht.

Frontex-Einsätze tief in Afrika

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach nach dem jüngsten Vorfall ebenfalls von einer „Tragödie“. „Wir müssen gemeinsam unsere Bemühungen um den Pakt für Migration und Asyl und den Aktionsplan für das zentrale Mittelmeer verdoppeln“, sagte sie. In diesem Plan heißt es unter Punkt 14, dass Such- und Rettungsaktionen besser koordiniert werden sollten. Die Punkte 1 bis 13 jedoch handeln von Abschottung, Abschreckung und Abschiebung.

Wie oft das Wort „Tragödie“ fällt, ist insofern kein Maßstab für die EU-Migrationspolitik. Der desaströse Höhepunkt könnte erreicht sein, wenn es ganz entfällt. Dann wäre es der EU gelungen, das Sterben vor und an ihren Außengrenzen soweit an die Peripherie zu drängen, dass die Suggestion greift, Europa hätte nichts damit zu tun. So soll nach Brüssler Vorstellungen stärker mit Libyen kooperiert werden, wo es laut Auswärtigem Amt Internierungslager gibt, in denen „KZ-ähnliche Verhältnisse“ herrschen. Dazu passen Einsätze der Grenzschutzagentur Frontex, die für den Senegal und Mauretanien vorgesehen sind. Statt „illegale Einreisen“ zu verhindern, bei denen Tragödien sichtbar werden, sollen demnach künftig „illegale Ausreisen“ unterbunden werden. Tief in Afrika, möglichst unsichtbar, Schuld haben die anderen.

Die EU bleibt dem Narrativ von der Tragödie auch deshalb treu, weil es Ohnmacht vortäuscht. Was sich auf dem Mittelmeer abspielt, ist kaum zu beeinflussen, was immer man auch entscheidet. Aber Politik kann Fluchtursachen bekämpfen, legale Wege nach Europa schaffen, Menschen vor dem Ertrinken retten, auf schnelle und faire Asylverfahren hinwirken. Das nicht zu tun, ist eine Entscheidung. Und wer sich hingegen der Floskel „Tragödie“ bedient, gesteht ein, wie nachdrücklich Europa seine Werte verrät.

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