Im Wahlkampf vergessen

Arbeit Die Hebamme Jennifer Heim fühlt sich von der Politik allein gelassen. Die große Koalition schwang zwar große Worte, schaffte jedoch keine Abhilfe
Der Beruf muss wieder attraktiv werden
Der Beruf muss wieder attraktiv werden

Foto: Imago/Steinbach

Als Alexander Gauland diesen einen Satz sagt, horcht Jennifer Heim auf: „Wir werden sie jagen.“ Sie sitzt am dunkelbraunen Esstisch im Wohnzimmer ihrer Altbauwohnung. Bis eben liefen die ersten Hochrechnungen unbeachtet im Livestream auf dem Laptop. Heim legt gerade die politischen Forderungen der Hebammen dar, da kommt sie ins Stocken. „Krass“, entfährt es ihr. Das, wovor sich viele gefürchtet haben, ist nun eingetroffen. Die AfD sitzt im deutschen Bundestag. Ihre Augen wandern an den unteren Bildschirmrand. Sie liest die Ergebnisse der anderen Parteien. „Und die Linke hat am wenigsten Stimmen bekommen“, sagt sie schockiert. Bei ihnen hat sie ihr Kreuz gesetzt.

Heim ist 32 Jahre alt und arbeitet als Hebamme in Berlin. „Die Linke hat für uns Hebammen immer wieder Forderungen in den Bundestag eingebracht. CDU und SPD haben dagegen nichts gemacht. Sie schieben die Verantwortung auf die Krankenhäuser oder die Länder ab.“ Aber gewählt habe sie nicht nur als Hebamme. „Für mich ist die soziale Ungleichheit in Deutschland momentan das wichtigste Thema. Noch dazu arbeite ich in einem sozialen Beruf, einem typischen Frauenberuf. Da sind die Löhne besonders niedrig.“ Vor elf Monaten ist die junge Frau mit dem braunen Pferdeschwanz und dem attraktiven, wachen Gesicht selbst Mutter geworden. Tochter Charlotte sitzt auf ihrem Schoß. Der Wiedereinstieg in den Beruf steht kurz bevor. Zurück will sie auf jeden Fall. Nur wie, das steht noch nicht fest. Am liebsten würde sie außerklinische Geburtshilfe leisten. Aber freiberufliche Geburtshilfe bedeutet zusätzlich Rufbereitschaft. Das kann sie als Mutter nicht leisten. Entscheidet sie sich dagegen für die geregelten Arbeitszeiten am Krankenhaus, wird sie auf einer der überlasteten Geburtsstationen landen, inklusive Schichtdienst. „Ich glaube, das ist für viele Hebammen das Schlimmste: Diese Überlastung. Ich will keine Geburt beschleunigen, ich will nicht mehrere Frauen gleichzeitig betreuen müssen. Während der Geburt brauchen Mütter einfach eine Eins-zu-eins-Betreuung.“ In München, wo sie gelernt hat, war es schon vor zehn Jahren so, dass fünf bis zehn Frauen gleichzeitig betreut wurden. Die Überlastung gepaart mit wirtschaftlichen Prinzipien wie Fallpauschalen blieben nicht ohne Konsequenzen. „Es wird unnötig überversorgt. Auch weil ein Kaiserschnitt lukrativer ist, als eine Spontangeburt“, sagt Heim. Die WHO empfiehlt eine Kaiserschnittrate von höchstens 15 Prozent. In Deutschland kommt jedes dritte Kind so zur Welt. „Viele Gynäkologen, die eigentlich eine gute Versorgung anbieten würden, werden durch das System gezwungen, eine schlechte Versorgung anzubieten.“ Das führt im Krankenhaus zu Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Hebammen.

"Rahmenbedingungen sind Aufgabe des Staates"

Die Forderungen, die viele Hebammen vor der Wahl formuliert hatten? Die Haftpflichtversicherung ist mit rund 7500 Euro zu teuer, der Personalmangel sorgt für Überlastung. Der Beruf muss wieder attraktiv werden. Während des Wahlkampfes wurden diese Probleme auch von Politikern immer wieder thematisiert. Gesehen gefühlt hat sie sich dadurch nicht. „Ich fand das lächerlich. Gerade diese Rede vom Pflegenotstand. Als hätten wir den seit Beginn der Wahlkampagnen. CDU und SPD sind ja seit Ewigkeiten an der Macht und haben nichts verbessert. Im Gegenteil.“ Die Versicherungsprämie ist weiter gestiegen. Die Arbeitsbedingungen haben sich auch in öffentlichen Krankenhäusern verschlechtert. Die Charité Berlin ist in öffentlicher Trägerschaft. Auch dort wird Personal outgesourcet. Wer für Tochtergesellschaften arbeitet, verdient deutlich weniger. „Sich Verbesserungen auf die Fahnen zu schreiben, während man nicht einmal die Arbeitsbedingungen in den eigenen, öffentlichen Krankenhäuser so gestaltet, dass Leute davon leben können, ist verlogen.“ Der Deutsche Hebammenverband hatte den Parteien Wahlprüfsteine vorgelegt. Die Union antwortete, über Personalschlüssel und Arbeitsbedingungen entscheide das Krankenhaus. Die Löhne seien Teil der Vergütungsverhandlung zwischen dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen und den Hebammen. „Aber das ist David gegen Goliath“, sagt Heim. „Die Rahmenbedingungen zu schaffen, ist doch Aufgabe eines Staates. Aber wir sind eine extrem kleine Berufsgruppe. Wir haben keine Lobby. “ Sie fühlt sich allein gelassen.

Kann sie trotz dieser Erfahrung Vertrauen in die Politik haben? Heim lacht auf: „Im Großen und Ganzen eher nicht.“ Das ist wohl die einzige Gemeinsamkeit, die sie mit den AfD-Wählern teilt. Ihr Lachen klingt nicht verbittert, eher so, als sei sie verwundert darüber, wie selbstverständlich sie diese Frage mit "Nein" beantworten muss. „Sei es Pflegenotstand oder Altersarmut. Es passiert nichts. In Berlin sieht man Rentner Pfandflaschen sammeln. Dabei sind wir eines der reichsten Länder der Welt.“ Bleiben, wie es ist, kann es daher nicht: „Unsere Berufsgruppen müssen aufstehen und sagen: Wir wollen eine Veränderung. Aber um das durchzusetzen, braucht es die Politik, um gesetzliche Rahmenbedingungen zu verankern.“

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