Kevin will da hoch

Porträt Kevin Hönicke möchte für die SPD in den Bundestag. Er weiß aus Erfahrung, dass man um soziale Gerechtigkeit ringen muss
Ausgabe 33/2017
„Es gab bis heute keinen Kevin im Bundestag“
„Es gab bis heute keinen Kevin im Bundestag“

Foto: Monika Keiler für der Freitag

In der neunten Klasse hält Kevin Hönicke ein Referat über Gerhard Schröder. Seine Klassenlehrerin beschwert sich danach, er sei viel zu lang auf „Schröders Weg nach oben“ herumgeritten. Aber die Geschichte eines Mannes, der wie er aus einfachen Verhältnissen kommt, fasziniert Hönicke. Es ist 1998, und Gerhard Schröder ist noch nicht der Hartz-IV-Kanzler, sondern ein sozialdemokratischer Hoffnungsträger, der Bundeskanzler werden will. Schröder macht Wahlkampf und Kevin ein Zeitungsprojekt in seiner Realschule in Hellersdorf.

20 Jahre später steht Kevin Hönicke selbst auf der politischen Bühne, auch wenn es eine kleinere ist. „Wisst ihr eigentlich, dass wir Geschichte schreiben und die Ersten sein können?“, fragt er die Genossen bei der Landesvertreterversammlung der Berliner SPD. „Es gab bis heute keinen Kevin im Bundestag.“ Lachen aus dem Publikum, Hönicke unterdrückt seine Nervosität. „Aber wir ändern das!“

Innere Kämpfe

Eine Studie der Universität Oldenburg belegt, dass sich hinter dem kalkulierten Witz ein ernstes Thema verbirgt: Kevins haben es in diesem Land nicht leicht. Der Bildungserfolg hängt von der sozialen Herkunft ab. Und auch Lehrer verbinden Namen mit Vorurteilen. Lässt sich das falsche Milieu bereits am Vornamen ablesen, wird es schnell zappenduster.

Aus dem Makel seines Vornamens macht Hönicke nun eine Wahlkampfstrategie. Er ist SPD-Fraktionsvorsitzender im Berliner Bezirk Lichtenberg und wittert seine Chance, der erste Kevin im Bundestag zu werden. Seine Rede im Mai hat ihm Aufmerksamkeit beschert. Und der Erste sein, das passt zu seinem Lebensweg: Er war der Erste in seiner Familie, der Abitur machte – und der Erste, der studierte. Er lebt den alten SPD-Traum: Aufstieg durch Bildung.

Rückblende, 1989 zieht Hönickes Familie nach Hellersdorf in einen Plattenbau. Die Mutter weint vor Freude. Seine Eltern sind Ossis, der Vater ein Wendeverlierer. Als Hönicke elf Jahre alt ist, lassen die Eltern sich scheiden. Der Kontakt zum Vater bricht ab. Nach der Trennung ist die Mutter mit den drei Söhnen wirklich allein, auch finanziell. Sie arbeitet in der Pflege. „Wenn ich zurückschaue, weiß ich gar nicht, wie sie das alles geschafft hat“, sagt Hönicke.

Der Job der Mutter ist schlecht bezahlt, die Jungen in der Pubertät. „Wir haben nicht gehungert. Aber ich bin in Hellersdorf schon mit dem Bewusstsein groß geworden: Du hast kein Geld, das Leben ist hart und ungerecht.“ Von seinen Freunden macht keiner Abitur, niemand studiert. „Dieses Sich-selbst-Verwirklichen, das war bei uns nie Thema.“ Hätte ihm damals jemand gesagt, er würde eines Tages für den Bundestag antreten, hätte er nur gelacht. „Nie im Leben, hätte ich gesagt.“

Hönicke hat nichts von einem Proll aus der Platte. Man kann sagen, ihm fehlt die Street Credibility. Seine blonden, leicht gewellten Haare sind schulterlang. Er trägt Jeans, dazu ein blaues Sakko und eine schwarze Nickelbrille. Die schwarzen Schuhe sind ein bisschen zu abgewetzt für einen angehenden Berufspolitiker. Ein anderer Teil seiner Biografie prägt ihn optisch: Er sieht aus wie ein Mathe-und-Physik-Lehrer. Und das ist er auch.

Wenn Hönicke von seinem Beruf als Lehrer spricht, klingt noch immer Ehrfurcht mit. Er – ein Lehrer? Das hätte er, als er selbst noch zur Realschule ging, niemals für möglich gehalten. „Als ich das erste Mal mein Lehrer-Gehalt bekommen habe, habe ich geheult. Es war so unvorstellbar, dass ich dieses Geld kriege, das jenseits von dem lag, was meine Mutter je verdient hat.“ Sein Beruf hat ihm auch in der Politik geholfen. Er wusste, dass er auf dem Parteitag etwas brauchte, damit ihm die Leute nach der zehnten Rede noch zuhören. „Das kenne ich aus dem Unterricht. Wenn du da am Anfang verkackst, dann brich am besten ab und lass alle nach Hause gehen.“

Nach der Schule macht er zunächst eine Lehre als Kfz-Mechaniker. Einfach, weil er ein Schul-Praktikum in dem Bereich gemacht hatte. „Das war typisch für uns als Familie. Dieses: „Man hat halt einen Job“. Aber man fragt sich nicht: Was will ich eigentlich?“ Hönicke spürt, dass der Job in der 24-Stunden-Werkstatt ihn kaputtmacht. Hoher Leistungsdruck, wenig Geld. Die anderen sind froh über Nachtschichten, weil sie dadurch überhaupt Geld verdienen. „Mit 40, 50 waren die meisten am Ende. Da habe ich mich schon gefragt: Soll das dein Leben werden?“

Lehrer, denkt er, das wäre was. In der Berufsschule erzählt ihm eine Lehrerin, dass er sein Abi auf dem zweiten Bildungsweg nachholen könnte, mit Schüler-BAföG. Das ist seine Chance. „Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich etwas so richtig wollte.“ Er erzählt das in einem Ton, dass man sich daran erinnert, was in dem Wort Traumberuf alles stecken kann. Er ist damals 19, und der Zweifel sitzt noch tief. „Ich und Abi, habe ich gedacht – keine Ahnung, ob ich das schaffe.“

Vorurteile von Grundschullehrern

Sie wird Kevin-Studie genannt. Eine Master-Arbeit der Universität Oldenburg sorgte 2009 für Aufsehen. Sie zeigte, dass Lehrer die Vornamen ihrer Schüler mit Vorurteilen verbinden. Während viele Grundschullehrer Jungen mit Namen wie zum Beispiel Jakob oder Maximilian als leistungsstark einstuften, schrieben sie anderen negative Eigenschaften zu. Der Name, der am häufigsten mit dem Merkmal „verhaltensauffällig“ assoziiert wurde , war Kevin. Eine Nachfolgestudie legt nahe, dass solche Vorurteile auch auf die Bewertung schulischer Leistungen einwirken. Man geht schon lange davon aus, dass Namen Einfluss auf Erfolg und Bildungschancen haben, weil sie Rückschlüsse etwa auf die Zugehörigkeit zu einer Schicht zulassen.

Seit Agenda 2010 und Hartz-IV-Gesetzen taucht der Begriff der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland wieder häufiger in der öffentlichen Diskussion auf. Besonders intensiv wird soziale Gerechtigkeit im Bildungssystem diskutiert. Bereits die erste PISA-Studie aus dem Jahr 2000 stellte einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungschancen fest. Die schulischen Leistungen sozial schlechtergestellter Kinder lagen deutlich unter denen ihrer Mitschüler. Der sogenannte „PISA-Schock“ führte seitdem zu mehreren Schulreformen. Ein Ergebnis ist, dass sich der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg in Deutschland abgeschwächt hat. Er bleibt aber weiter deutlich über dem OECD-Schnitt.

Mit dem Neuanfang geht ein Bruch einher. Die alten Freunde wundern sich: „Warum macht der Kevin denn jetzt Abi?“ Hönicke wächst aus seinem alten Leben heraus, schließt als einer der Schulbesten ab. Gleichzeitig ist er noch immer der kleine Kevin aus Hellersdorf, der es anderen immer recht machen will. Das Abitur ist eine Phase innerer Kämpfe: „Warum bist du so klein, oder machst du dich selbst so klein?“ Mit den großen Fragen kommt auch der Wunsch auf, die Beziehung zum Vater zu klären. Da erreicht ihn die Nachricht von dessen Tod. „Das war krass.“ Da ist Hönicke 23. Auf die Beerdigung geht er als Einziger aus der Familie.

Inzwischen ist Hönicke selbst Vater. Kurz nachdem er entschieden hatte, dass er für den Bundestag kandidieren will, kam die Nachricht, dass seine Freundin schwanger war. Im Juni kam der Sohn zur Welt. Bei seiner Bundestagskandidatur bremst ihn das nicht aus.

Nach seinem nachgeholten Abitur gehtHönicke an die Humboldt-Universität. Elite und so. Das Studentenleben heißt für ihn nicht Freiheit, Rotwein und nächtelange Partys. Es bedeutet: fünf Jahre Druck. Immer den Zweifel im Nacken. Und die Zweifler. Die Geschichte vom Aufsteiger wird gern erzählt. Hönicke aber kann sich nicht aussuchen, ob er davon erzählen möchte. Sein Name ist ein Stempel. „Ich hatte mal eine Vorlesung, der Prof guckte sich die Namensliste an und sagte voller Ironie: Er freue sich, dass er in einer Gesellschaft lebe, wo endlich auch mal ein Kevin in seiner Vorlesung sitze.“ Als der Professor darauf fragte, wer dieser Kevin genau sei, schwieg Hönicke.

Aber die Herkunft verrät ihre Kinder auch so. Es sind die feinen Unterschiede, die der Soziologe Pierre Bourdieu beschrieben hat. Die ungeschriebenen gesellschaftlichen Regeln, die man nicht kennt. Die Unsicherheit über den eigenen sozialen Status. Die Erschöpfung. Wenn die anderen für Klausuren büffeln, geht Kevin jobben. Wenn die anderen feiern gehen, setzt er sich zum Lernen an den Schreibtisch.

Ein Arbeiterkind darf an der Uni kein Exot sein, findet Hönicke. „Diese vielen kleinen Barrieren, die dir immer wieder bewusst machen: Du bist einer, der hier eigentlich nicht hingehört.“ Das treibt ihn jetzt als Politiker an. Er weiß, wie schwer der „Aufstieg durch Bildung“ ist, der so oft von der Politik beschworen wird. Die Sorge, dass er scheitern könnte, ist nie ganz von seiner Seite gewichen. 10.000 Euro BAföG-Schulden wären dann von seinem Lebenstraum übrig geblieben.

„Ich habe immer an dem Gedanken gekratzt, dass ich mich jetzt verwirklichen kann, und ich hatte gleichzeitig Angst, dass ich auf der letzten Stufe der Leiter doch runterfalle.“ Aber er schafft es, er besteht sein Staatsexamen mit 1,0. Die Note ist ihm da inzwischen egal. „Es ging nur darum, mir zu beweisen: Ich kann das schaffen!“ Die Konsequenz, die er aus dieser Erfahrung gezogen hat, lautet im SPD-Jargon nun: Bildungsgerechtigkeit fordern.

Mit 23 zieht er in den Weitlingkiez in Lichtenberg. Seine Freunde meinen: „Was willst du denn im Nazi-Kiez?“ Er fühlt sich jedes Mal, als würde er kneifen. Dann findet eine der größten Nazi-Demos statt, die der Kiez je gesehen hat. Auf der Gegendemo hat Hönicke richtig Angst. „Da habe ich gemerkt: Ach du Scheiße, die sind ja richtig krass.“ Das ist der Punkt, an dem für ihn feststeht: „Dagegen musst du vorgehen.“

Als er seiner Mutter sagt, dass er jetzt in die SPD eintritt, fällt sie fast vom Stuhl. Sie glaubt weder an Parteien noch an Politiker. In der DDR hatte sie sich geweigert, in die SED einzutreten, und durfte nicht studieren. „Wenn ich in Hohenschönhausen von Tür zu Tür gehe, verstehe ich die Menschen, die sagen: Lass mich in Ruhe. Das kenne ich von zu Hause.“ Aber genau deshalb will er für sie eintreten: „Ich will, dass Menschen, die sich den Arsch aufreißen, nicht unten bleiben müssen und sich immer klein fühlen. Ich will, dass sie sich entwickeln können. Und dass es in der Politik Menschen gibt, die es wirklich ernst meinen. Ich möchte denen sagen: Ich sehe dich nicht nur, ich verstehe dich sogar.“

Trotz Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze entscheidet Hönicke sich für die SPD. Aber auch in der Politik ist da zuerst wieder dieses Gefühl, fehl am Platz zu sein. Acht Jahre später ist er Fraktionsvorsitzender. „Ich bin seit zehn Jahren in der Politik, und viele sagen, ich sei ziemlich schnell in die Ämter gekommen.“ Dabei wirkt es nicht, als ob großer Ehrgeiz ihn antreibe. Er macht einfach, hangelt sich von einer Position zur anderen. „Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich im Landesvorstand mit Klaus Wowereit und Co. saß. Auch da war ich wieder dieser unsichere kleine Kevin, der in diese Welt doch gar nicht reingehörte. Aber dann habe ich Schritt für Schritt diese Ehrfurcht verloren.“

Hönicke ist kein Visionär, seine Politik ist pragmatisch. Es war nicht die große Welt, die ihn in die Politik trieb, nicht Willy Brandt und auch nicht Gerhard Schröder, sondern der Gedanke: „Der Weitlingkiez ist eigentlich ein schöner Kiez“ und Meckern allein reiche nicht gegen Nazis. Auch bei der Bundestagswahl geht es für ihn darum, den Rechtsruck aufzuhalten. Und als Sohn einer alleinerziehenden Mutter, Ehemann einer Frau, die aus Kasachstan nach Deutschland geflohen ist, und erst recht, seit er im Kreißsaal bei der Geburt seines Sohns dabei war, ist Hönicke Feminist. Seine Erfahrungen haben ihn dazu gemacht.

Von der Platte aufs Plakat

„Einfach machen“ steht auf seinen Plakaten. Ob er damit tatsächlich der erste Kevin im Bundestag wird, wird die Wahl im September entscheiden. Als Direktkandidat für Lichtenberg sind seine Chancen eher gering. Hier regiert die Linke. Aber er hat auch Platz acht auf der Landesliste, das könnte für den Bundestag reichen.

Beim Erzählen von Aufsteigergeschichten lauert eine Gefahr: Wer es von ganz unten nach oben geschafft hat, neigt nicht selten dazu, zu verkünden, alle könnten es schaffen, wenn sie sich nur genug anstrengten. Schwierig für einen SPD-Politiker, der sich für den kleinen Mann einsetzt und gegen ungerechte Strukturen kämpft.

„Wenn man sich meine Biografie ansieht, zeigt sich: So einfach ist es eben nicht. Es gibt überall gläserne Decken. Und die müssen verschwinden. Meine politische Vision ist, dass Menschen einfach machen können, was sie machen wollen.“ Der Weg aus der Platte auf die Wahlplakate war lang. Es fühle sich aber nicht so an, als ob er sich von seinem alten Leben entfernt habe. Wenn er heute nach Hellersdorf zu seiner Mutter fährt, ist da noch immer ein Gefühl von Nach-Hause-Kommen. „Jetzt fahre ich jeden Tag mit der U5 nach Hellersdorf zur Arbeit. Dort, wo ich früher nur wegwollte, fahre ich jetzt mit Freude hin.“

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