Migrationskrise: Die EU will einen Zaun um Europas Grenzen bauen
Asylpolitik Der jüngste Gipfel hat entschieden, dass substanzielle EU-Mittel in den Grenzschutz und dessen „Infrastruktur“ fließen. Damit sind Wachtürme, Wärmebildkameras, elektronische Überwachungssysteme und Befestigungsanlagen gemeint
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Die Idee, rings um die EU eine Mauer zu errichten, konnte sich bisher nicht durchsetzen. Es wird ein Zaun. Neuerdings vergeht in Brüssel kaum ein Tag, an dem in Plenarsitzungen, Hintergrundgesprächen und Briefings nicht über Migration gesprochen wird. Während Corona war die EU so weit abgeriegelt, dass dieses Thema fast abhandenkam. Mittlerweile zählt die EU-Grenzschutzagentur Frontex wieder jede Menge illegale Einreisen, während die EU-Staaten über Registratur, Verteilung und den Mangel an Solidarität streiten.
Kurzum, die Migrationskrise ist zurück. Seit Januar steht ein Lösungsansatz im Fokus: der Bau einer Mauer. Wollte man das optisch darstellen, würde sich der Kopf Donald Trumps vor einem mit Stacheldraht bewehrten Wall anbieten.
anbieten. Neben ihm könnte Manfred Weber in die Kamera lächeln, auf dem blauen Cap des Fraktionschefs der Europäischen Volkspartei (EVP) der Spruch: „Make Europe Great Again“. Der CSU-Politiker verlangte zuletzt mehrfach grundlegende Korrekturen in der EU-Migrationspolitik. Zeitungen zitierten ihn mit der Aussage: „Die EU-Staaten schlafwandeln in eine neue, große Migrationskrise hinein.“ Sein Vorschlag: die Außengrenze mit Zäunen befestigen. Die gesamte EVP steht hinter ihm, EU-Staaten wie Österreich, Griechenland, Dänemark und Belgien schließen sich an. Seither spukt das Bild der Mauer durch Brüssel. Politico, das Medium, mit dem die EU-Blase jeden Morgen aufwacht, schreibt fast täglich über „The Wall“. Auf dem jüngsten EU-Gipfel wurde bis in die Nacht verhandelt. Kanzler Olaf Scholz soll versucht haben, die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Sein Argument, „Mauern funktionieren einfach nicht“, man sehe es an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Fest steht: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten – es wird ein Zaun. Mit Wachtürmen, Drohnen und Wärmebildkameras, so die Beschlusslage im Europäischen Rat, verkündet von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der Nacht vom 10. zum 11. Februar. Es wird dazu aufgerufen, substanzielle EU-Mittel in den Grenzschutz und dessen „Infrastruktur“ zu investieren. Von der Leyen dozierte, weil Grenzen besser geschützt werden müssten, werde die EU ein „integriertes Paket von mobiler und stationärer Infrastruktur anbieten – von Autos über Wachtürme und Kameras bis hin zu elektronischer Überwachung“. Herzschlagdetektoren und Wärmebildkameras dürften Teil des Equipments sein, doch so technologisch hochgerüstet ist die EU-Außengrenze vielerorts bereits. Der ungarische Premier Viktor Orbán hat dafür Sorge getragen, als er 2015 Zäune gegen Flüchtende hochziehen ließ.Die EU kritisiert Ungarn für seine Migrationspolitik und baut dann selbst ZäuneDie Budapester Zeitung Hungary Today regt sich darüber auf, dass man Ungarn immer wieder für seine Migrationspolitik kritisiert habe und nun Manfred Weber selbst Zäune fordere – Weber fabriziere einen 180-Grad-Schwenk. Doch ist das nur die halbe Wahrheit, vielmehr hat die gesamte EU einen solchen Schwenk vollzogen. Zäune verheißen nicht die erste Verschärfung der Migrationspolitik und sind absehbar nicht die letzte. Dass unablässig am Grenzmanagement gearbeitet wird, hat viel mit der 2024 anstehenden EU-Wahl zu tun. Was die Kommission noch durchsetzen will, muss sie jetzt angehen. Sollte es eine europäische Öffentlichkeit geben, wäre es sinnvoll, wenn sie jetzt aufwacht. Welches Ausmaß hat die neue Migrationskrise, die zwar keine Mauer, aber mehr Grenzinfrastruktur rechtfertigt? Frontex schätzt, dass 2022 gut 330.000 Menschen „irregulär“ in die EU eingereist sind – im Vergleich zu 2021 ein Anstieg um 64 Prozent. In den Jahren 2015 und 2016 zählte die Agentur mehr als 2,3 Millionen Grenzübertritte. Dass diese Dimension vorerst ausbleibt, kann eine Folge vieler, nur allzu oft gewaltsamer Zurückweisungen an den Grenzen sein. „Viele Menschen versuchen mehrere Male nach Europa zu kommen“, sagt Andreas Grünewald, Referent für Migration bei „Brot für die Welt“. Indes fällt auf, je mehr Hilfesuchende unterwegs sind, desto stärker köchelt Streit zwischen EU-Regierungen. Frankreich und Italien entzweit die Frage nach der Verteilung von Geflüchteten. Österreich und die Niederlande verhinderten den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengen-Raum. Begründung: Von dort kämen zu viele nicht registrierte Migranten. Die EU-Kommission versucht es mit Aktionismus, hier ein Aktionsplan für die Balkanroute, dort einer für das Mittelmeer. Im Dezember gab es den Vorschlag, Fluggastdaten zu nutzen, „um die Verwaltung der Außengrenze zu erleichtern und die innere Sicherheit zu stärken“. Fluggesellschaften müssten die Außengrenze schützen, indem sie Namen und Passnummern bei innereuropäischen Flügen zugänglich machten. Nur Monate zuvor hatte der Europäische Gerichtshof entschieden, dass diese Praxis allein bei Terrorgefahr zulässig sei.Menschenrechtler warnen vor den Folgen der EU-Asylreform Schließlich schuf die EU den Posten des EU Return Coordinator, eines Sonderbeauftragten für Abschiebungen. Weil Drittstaaten hierbei eine entscheidende Rolle spielen, da sie ihre Staatsangehörigen zurücknehmen müssen, arbeitet die EU mit „Karotten und Stöcken“, wie es ein Diplomat in Brüssel nennt. Ein Beispiel für den „Stock“: Der Europäische Rat droht Entwicklungsländern mit Einfuhrzöllen, sollten sie bei Abschiebungen nicht kooperieren. Visaerleichterungen können dagegen „Karotten“ sein. Da liegt jede Menge Material auf dem Verhandlungstisch, darunter nicht die große EU-Asylreform. Stattdessen wird ein Paket der bösen Überraschungen geschnürt, zu denen die „Instrumentalisierungsverordnung“ zählt. Sie soll der EU Spielraum geben, wenn Migranten instrumentalisiert werden wie 2021, als der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko Polen mit Flüchtlingen „fluten“ wollte. Menschenrechtler warnen, diese Verordnung könnte brutale Zurückweisungen an den Außengrenzen legitimieren, und das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) wartet nervös, ob ein solches Dekret bei einem der kommenden EU-Gipfel auf der Tagesordnung steht. Es gibt eine Theorie in Brüssel, die besagt, in der Migrationspolitik tut sich dann besonders viel, wenn niemand hinsieht.