Wer sagt denn, dass sich mit der Herstellung von Content keine gigantischen Geldsummen mehr verdienen lassen? Schon vor Monaten konnte man durch präzise targetierte Anzeigen über Blinkist lesen: „Dieses Berliner Start-up wird mit $35 Millionen von US-Investoren gefördert.“ Blinkist ist eine App, welche laut Eigenwerbung die „großen Ideen von über 3.000 Sachbüchern auf den Punkt bringt“ – und liefert zugleich ein großes David-gegen-GoliathStorytelling über den „Hype“, der diese Plattform so erfolgreich macht, dass US-amerikanische Venture-Capital-Firmen investieren.
Die Story von Blinkist wird dabei selbst als „unglaubliche Begebenheit“ in einem populären Storytelling kondensiert, das zentrale Mytheme unserer Start-up-Kultur narrativ verdichtet: „Drei junge Männer lernten sich an der Uni kennen, schmissen ihre Jobs und gründeten ein Start-up.“ Toll. Und weiter: „Die Idee zu Blinkist entstand bereits 2012 bei einem Bier.“ Also nicht etwa in einer staubigen und langweiligen Bibliothek. Wichtig ist auch die heldenhafte Bewältigung der anfänglich unüberwindlich scheinenden Schwierigkeiten: „Fast pleite, dann millionenschwer!“ Und weil Purpose heute nirgendwo fehlen darf: „Jetzt hilft diese App täglich Millionen Menschen.“
Trend-App unter Akademikern
Die Kernidee besteht darin, Tausende von (zumeist populären) Sachbüchern so zu kondensieren, dass sie sich in wenigen Minuten (in einem „blink“) lesen lassen. Auf diese Weise erscheint Blinkist kulturhistorisch bewanderten Beobachtern als digitales Remake des Konversationslexikons des 18. Jahrhunderts, welches früheren Zeiten die Gesprächsgrundlage für die schöngeistige Salonunterhaltung lieferte, und analog wird es auch beworben: „Das ist die neue Trend-App unter Akademikern.“
Irgendwo hat die Gutenberg-Galaxis und ihre fundamentale Knowledge-Unit, das gute alte Buch sowie das in ihm enthaltene Wissen, also immer noch magische Ausstrahlung für die Bildungs-Maniacs der digitalen Disruption. Erinnern wir uns: Hatte nicht sogar Mark Zuckerberg, der jedes seiner Lebensjahre publikumswirksam einem spezifischen Zweck unterordnet, das Jahr 2015 für sich zum „Jahr des Bücherlesens“ proklamiert? Und auch wenn über den Erfolg dieses Projekts bei Zuckerberg wenig bekannt ist, nutzt auch Blinkist solche „Lighthouse-Effekte“, weil es natürlich fragt, „wie es erfolgreiche Menschen wie Bill Gates schaffen, neben einem Vollzeitjob ein Buch pro Woche zu lesen“.
Sprich: Wenn wir das irgendwie doch hinbekommen könnten mit der täglichen Buchlektüre, könnten wir unseren eigenen Erfolg auch boosten, weil Mark Zuckerberg oder Bill Gates das offenbar ja auch so machen mit dem Bücherlesen. Tatsächlich dockt das Produkt an den Trend des „Microlearning“ an: Lernen soll heute nicht mehr beschwerlich und an längere Phasen fokussierter Konzentration gebunden sein, sondern easy, problemlos über leicht verdauliche Häppchen „snackable“ gemacht werden.
Deshalb besteht eine gewisse Ironie darin, dass die drei Blinkist-Gründer ausgerechnet vor allem den Textkosmos populärer Sachbücher ausschlachten – denn dieses Genre ist ja schon vor langer Zeit als Marktreflex auf die maximierte Kapitalisierung von Mainstreamwissen entstanden. Diese Art von Büchern war also vor ein paar Jahrzehnten in etwa das, was Blinkist heute ist. Liegt es an diesem hybriden Schlingern zwischen massenkompatibler Anbiederung und dem Pochen auf Seriosität („von dem anerkannten Experten XY“, oder „wissenschaftlich erwiesen“; auch Blinkist baut übrigens „auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus Hirnforschung und Psychologie“ auf), weswegen das Phänomen Sachbuch trotz seiner ungeheuren Popularität zugleich so untererforscht und unverstanden bleibt?
Schwierig ist ja schon, zu bestimmen, wann das Sachbuch überhaupt genau entstand. Man ahnt irgendwie, dass ein reiner Bestseller-Status allein dazu nicht ausreicht. Wir können spüren, dass ein Titel wie Darwins Origin of Species zwar sehr, sehr oft verkauft wurde, aber eben nicht der Kategorie des populären Sachbuchs zuzurechnen ist.
Es ist mit dem populären Sachbuch irgendwie so wie bei Porno: Es ist schwer, zu einer präzisen Definition zu gelangen, aber man erkennt es sofort, wenn man es vor sich hat.
Versuchen wir es dennoch: Das populäre Sachbuch ist ein auf Massenkonsum optimiertes Wissensprodukt, dessen Gelingen von zwei Faktoren abhängt: dem Titel und dem Autor-Image, deren jeweilige Kreuzung als Marketingidee vom Verlag konzipiert und massenmedial beworben wird. Die These des Texts ist beim Sachbuch schon vollständig im Titel enthalten, weswegen man das Buch dann auch als „Lösung“ auf diese Frage beziehungsweise das Problem kauft.
Charmante Darmgeschichten
Alle Informationen im Text werden typischerweise als „Beweise“ und „Belege“ auf die These hingestrickt, widersprechende Fakten werden unterdrückt, weil sie nur die Lesbarkeit und Unterhaltung stören würden. Genau das erklärt das schwierige Verhältnis, welches denkende Menschen zu solchen Sachbuchtiteln unterhalten, besonders das von jenen Menschen, die nicht ultimativ rhetorisch gerüstet sind durch Bücher wie etwa dieses: Schlagfertigkeit – Nie mehr sprachlos! Wie Sie mit Hilfe effektiver Gesprächstechniken sicher argumentieren, schwierige Situationen souverän meistern und jederzeit schlagfertig kontern. Yep.
Das Sachbuch adressiert einen aktuellen Trend, den es idealerweise „entdeckt“ oder „erstmals erschließt“ (Ein Keim kommt selten allein. Wie Mikroben unser Leben bestimmen). Die Autorfigur muss „irgendwie“ kompetent sein, aber sollte idealerweise auch noch gut aussehen und in Talkshows blendend rüberkommen. Zuletzt muss in diesem massenkompatiblen Gesamtprodukt irgendwo ein Moment der Überraschung stecken. War das nicht toll, diese ganzen charmanten Darmgeschichten von einer jungen Frau aufbereitet zu bekommen und nicht etwa von einem grauhaarigen Gastroenterologen? Lieben wir das nicht an Eckart von Hirschhausen, diesen sorgfältig kalkulierten Mix an „Experte“, „Kabarettist“ und „Zauberer“?
Die hier beschriebene, sehr eigenartig schillernde Form des Sachbuchs ist selbst ironischerweise als Vorform des heutigen „Clickbait“ entstanden, mit Clickbait ist im Internet ein Köder gemeint, eine reißerische Headline, ein Triggerwort, ein Bild, das den Leser direkt reinzieht in das Thema, sodass er die Sache sofort und unbedingt anklicken muss.
Seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts funktionieren erfolgreiche Sachbücher ähnlich. Reißerisch und provokativ waren sie häufig schon deshalb, weil ihre Experten-Autoren öfter im Kreis der „echten“ Wissenschaftler marginalisiert worden waren, weswegen sie den Umweg zur gesellschaftlichen Anerkennung über die Popularität nahmen. Unvergessen bleibt etwa Fredric Werthams Seduction of the Innocent, in dem er sehr erfolgreich die Verrohung der Jugend durch die Lektüre von Comics anprangerte (und die diskursgeschichtliche Blaupause von Manfred Spitzers heutigen Smartphonekinderverdummungsbüchern lieferte). Archivarische Analysen zeigen, dass Wertham seine Beobachtungen selbst publikumswirksam manipuliert und gefälscht hat, also seinerseits seine unschuldigen Sachbuchleser verführte.
Ein weiteres Beispiel sind die berühmten „Stress“-Bücher von Hans Selye. Selye hatte 1936 in der renommierten Zeitschrift Nature ein „general adaptation syndrome“ postuliert, eine allgemeine Körperreaktion auf schwere Schädigungen, deren Ursachen nicht nur physisch, sondern auch psychisch sein könnten. Die Wissenschaft ignorierte Selye lange, der sich hierauf an ihr und der ganzen Menschheit rächte, indem er in populären Büchern und Zeitschriften die ungehörte Metapher einer körperlichen Beanspruchung durch eine neuartige Form angeblich psychisch ausgelöster seelischer „Dehnung“ (auf Englisch: „stress“) behauptete. Erst in den achtziger Jahren wurde Selyes ursprüngliche These einer unspezifischen Stress-Reaktion ironischerweise wissenschaftlich falsifiziert, was an dieser Stelle hier nur ungenügend und kaum seriös ausgeführt werden kann. Was hängengeblieben ist, ist, dass Hans Selye heute als „Vater der Stressforschung“ gilt. Und nur wegen seiner populären Sachbücher sind wir eventuell bis heute ganz besonders gestresst. Seit Jahren liefern immer mehr populäre Experten und „Fernsehprofessoren“ immer neue Schlagzeilen der Weltdeutung mit den heute geradezu notorischen Untertiteln aus reflexartigen Frageantworten (oder sind es doch eher Antwortfragen?). Ein Beispiel: Die Multitasking-Falle: Warum wir nicht alles gleichzeitig können. Ja, warum denn bloß?
Die spezifische Herausforderung bei der Entwicklung solcher Bücher liegt wahrscheinlich ganz banal in zwei Aspekten. Der erste ist das Konzept – denn wie ironisch auch immer wir über solche Sachbücher reden, so wird das ja auch immer vom Neid der Besitzlosen grundiert, die selbst vergebens auf ihre eigene Entdeckung warten und am liebsten ähnliche Tantiemen eincashen würden. Auch wenn der Mainstream des populären Sachbuchs mitunter körperlichen Schmerz verursacht, besteht doch eine echte und anerkennenswerte Leistung darin, existierende Trends so in einer kurzen Headline brennpunktartig neuartig zu gestalten, dass Millionen so etwas lesen und gesellschaftliche Debatten daraus erwachsen.
Wenn man aber dann diesen fantastischen Titel gefunden hat, kommt die eigentliche Schwierigkeit. Weil ja eigentlich schon (fast) alles in diesem Titel drinsteht, muss oft starke Selbstbeherrschung vonnöten sein, dieselbe Frage über den Raum mehrerer Hunderter Seiten nochmals sehr ausführlich zu beantworten, ohne dass das Ganze für den Leser sehr langweilig wird (Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst. Wie man Manipulationen durchschaut).
Catch-22 bei der Rezeption
Mit dem Clickbait solcher Sachbücher geht es uns irgendwie so ähnlich wie mit dem Clickbait der Bild-Zeitung: Natürlich wähnen wir uns hier intellektuell gern überlegen, aber im Bus schauen wir dann doch immer gern neugierig auf die balkengroßen Headlines gegenüber. Auch bei Sachbüchern: Verhandeln im Grenzbereich, lese ich da bei irgendjemandem. Krass. Und dieser anerkannte, gewiefte Profi-Verhandlungs-Experten-Autor hat sogar echt mit Geiselnehmern und mit Bankräubern verhandelt. Ich habe da nächste Woche auch diese Gehaltsverhandlung anstehen …
Bisher gab es in diesem Augenblick nur die Wahl: Entweder nur die Überschrift im Vorbeilaufen mitlesen oder das ganze Buch kaufen.
Bisher war der Catch-22, die intellektuelle Zwickmühle, bei der Rezeption solcher Sachbücher ein Konflikt zweier widerstrebender Triebe ganz tief in unserem Hirnstamm. Primitive Neugier kämpfte stets gegen unser akademisches Alphatier-Ego: Irgendwie reizt dieser Titel, verspricht eine nette kleine Ladung Dopamin, ist aber leider unter meinem Niveau. So war es bisher.
Das alles ist jetzt vorbei. Denn genau hier setzt Blinkist an – denn Blinkist ist womöglich eine erschreckend gute Erfindung, und zwar gerade nicht für echte Sachbuchfans, sondern im Gegenteil für besonders wahrhaftige Bildungsenthusiasten, Kulturkritiker und gelehrte Feuilletonleser.
Denn Blinkist hat nichts anderes getan, als den diabolischen Teigrollen-Algorithmus der populären Sachbuchherstellung einfach umzudrehen. Wo Sachbuchautoren ihre Titelseitenthese mühevoll auf mehreren Hundert Quadratmetern bedruckten Papieres ausbreiten, fassen die Autoren der Blinkist-Zusammenfassungen das alles einfach wieder die Länge des ursprünglich lektorierten Buchkonzepts zusammen, also auf ein paar kurze Seiten.
Da fällt einem ein: Ließe sich das in Zukunft nicht noch viel praktischer gestalten? Was wäre denn, wenn die Verlage in Zukunft einfach direkt die Kurzkonzepte ihrer Sachbücher auf einer App verfügbar machten? Dann müsste das Blinkist-Experten-Team gar nicht mehr mühsam diese ganzen Texte durchackern und zusammenfassen. Auf einem Channel namens BlinkTube könnten AutorInnen die Videos zu Hause am Küchentisch mit Handykamera drehen. Was dann auch authentischer als Blinkist wäre und deutlich mehr Purpose hätte. Da ließen sich sicherlich ganz auf die Schnelle einige HUNDERTE Millionen an U.S. Venture Capital lockermachen. Überhaupt – warum all diese Bücher noch umständlich mit der Hand selbst schreiben, im Zeitalter der digitalen Transformation? Auf diesen Gebieten kann man heutzutage schon eine Menge mit künstlicher Intelligenz anfangen. Elon Musk weiß das, denn der ist allen wieder um Längen voraus, weil der schon früh in die Firma OpenAI investiert hat, die wiederum ein K.I.-Tool namens GPT-2 entwickelt hat, welches aus beliebigen Versatzstücken neue Texte schreibt. Ich wette, GPT-2 schafft mehr, als wir uns hier gerade vorstellen können (probieren Sie es selbst aus unter www.talktotransformer.com).
Leider sind wir noch nicht so weit, und BlinkTube ist zum jetzigen Zeitpunkt noch Zukunftsmusik. Die Gegenwart ist aber schon mit Blinkist toll genug. Endlich kann ich diese ganzen Bücher schnell in ein paar Minuten konsumieren und auf Partys irgendwie bei allem „mitreden“, ohne das alles jemals wirklich ernst nehmen zu müssen: „Kanntest du schon dieses Syndrom aus der Psychologie, wie hieß es doch gleich, too-stupid-to-know-they’re-stupid“, hahaha.
Auf dem Tisch im Zugabteil
Weil’s auf dem Handy ist, kann ich das alles heimlich lesen, es erwischt mich niemand irgendwo mit einem Hardcover, das natürlich meilenweit unter meinem Niveau liegen würde. Auf dem Tisch im Zugabteil lasse ich weiterhin nur Adorno und den Freitag liegen. Niemand muss mehr ein schlechtes ökologisches Gewissen haben: Keine unschuldigen Bäume müssen in Zukunft mehr sterben, damit sie in Richard-David-Precht-Bände verwandelt werden.
„Unglaublich! Mit Blinkist lesen Sie vier Bücher in nur einer Stunde.“ Auch wenn sie irgendwo medienhistorisch ironisch ist, diese infame aber unaufhaltsame Rache der Online-Oberflächlichkeit an der Offline-Oberflächlichkeit: Blinkist macht meine Welt zu einem besseren Ort.
Martin Andree ist Medienwissenschaftler und unterrichtet an der Uni Köln (Schwerpunkt digitale Medien). Er hat vier Bücher über verschiedene Formen von Medienwirkungen veröffentlicht. Sein Buch Placebo-Effekte. Heilende Zeichen, toxische Texte, ansteckende Informationen ist Ende 2018 bei Fink (461 S., 49,90 €) erschienen
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