Aufstand im Cyberspace

Virtueller Protest Das Internet als neuer Ort sozialer Auseinandersetzungen

Auch wenn in der schönen neuen Welt des Internets zuletzt durch den Börsencrash so manches dot.com-Unternehmens ein wenig Ernüchterung aufgekommen ist, so hat sich der Cyberspace dennoch zu einem Tummelplatz vielfältiger Interessen entwickelt. Kaum ein Unternehmen, das nicht mit einer eigenen Internet-Präsenz und speziellen Angeboten vertreten ist. E-Commerce ist das neue Zauberwort. Aber auch staatliche Institutionen und viele gesellschaftliche Interessengruppen haben die virtuelle Welt für sich entdeckt. Im Internet ist ein neuer öffentlicher Raum entstanden, der durchzogen ist von sich widerstreitenden Interessen.

Seit einiger Zeit wird dabei immer deutlicher, dass das Internet auch als Austragungsort politischer und sozialer Auseinandersetzungen fungiert. Längst beschwören auch Polit-Aktivisten die vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten des World Wide Web. Das "bombardieren" und manipulieren von Internet-Seiten ist zu einem neuen Mittel des politischen Protests geworden.

Die Idee dabei ist simpel. Ein zeitgleicher Mausklick in der virtuellen Welt des Internet kann verheerende Folgen haben. So blockierten 1998 zapatistische Solidaritätsgruppen mit virtuellen Sit-Ins die Internetseiten mexikanischer Finanzinstitutionen, um auf den Krieg der mexikanischen Armee in der Provinz Chiapas aufmerksam zu machen. Unterstützt wurden sie dabei vom New Yorker Pionier virtueller Aktionsformen, Ricardo Dominguez, und seinem "Electronic Disturbance Theater". "E-Protest ist ein taktisches Mittel, das wir einer ganzen Reihe anderer Mittel hinzufügen können, er ist aber keine Strategie", warnt Dominguez jedoch vor allzu großer Euphorie. So sei E-Protest ohne Aktionen auf der Straße wirkungslos.

Auch die "Al-Aqsa-Intifada" wird im Internet begleitet. So wurden beispielsweise zu Beginn des Aufstandes im Oktober 2000 israelische Websites durch permanente Zugriffe und Anfragen lahmgelegt. Aus mehr als 100 Staaten seien die Seiten des israelischen Militärs zu dieser Zeit aufgerufen worden, pro Woche mehr als 140.000 Zugriffe, heißt es aus Armeekreisen in Israel. Der "elektronische Jihad" hat sich mittlerweile zum Kampf zwischen pro-palästinensischen und pro-israelischen Hackern ausgeweitet. Gegenseitig wird immer wieder versucht, die Webpräsenz der anderen Seite auszuschalten oder zumindest zu stören.

Die Zerstörung von Computernetzen ist bei dieser Form der politischen Auseinandersetzung meist nicht das Ziel. Gleichwohl wird von staatlicher Seite eifrig an einem neuen Bedrohungsszenario gebastelt. In den USA predigen einflussreiche Sicherheitsexperten im Verein mit der CIA seit gut drei Jahren: Angriffe aus dem Cyberspace könnten die amerikanische Nation "schlimmer als Pearl Harbour" treffen. Auch die Bundesregierung hat die angebliche neue Bedrohung entdeckt. Im Oktober vergangenen Jahres kam eine geheim tagende Arbeitsgruppe mit Namen "Informationstechnische Bedrohungen für Kritische Infrastrukturen" (Kritis) zu dem Ergebnis, künftig könnten "gezielte Angriffe aus dem Internet" an die Stelle der "kriegerischen Auseinandersetzung im herkömmlichen Sinne" treten.

Mit sonderlich vielen Fakten lässt sich dieses Cyberwar-Schreckensbild allerdings nicht illustrieren. So findet sich in der Studie unter den aufgezählten Schadensfällen gerade ein einziger, der auf einen gezielten Angriff (durch eine serbische Hackergruppe namens Schwarze Hand) zurückgehen soll - der Rest sind "übliche" Computerprobleme, Schlampereien bei der Erstellung und dem (Nicht-)Test von Software etc. Kein Wunder: Tatsächlich laufen die kritischen Rechner bei Polizei oder Militär, bei Versorgungsunternehmen, Banken oder großen Firmen "stand alone" oder in strikt nach außen abgeschirmten Netzen. Hinzu kommt, dass viele dieser Attacken einen eher spielerischen Charakter aufweisen. So hisste etwa eine Hacker Union of China während des jüngsten Spionage-Konflikts zwischen China und den USA vorrübergehend die chinesische Nationalflagge auf US-Websites.

Für viele war das Internet bislang mit Informationsverbreitung und aufklärerischen Praktiken verbunden. Doch nun zeigt sich, dass die Kommerzialisierung des Netzes eigene Widerstandsformen hervorbringt. E-Commerce wird mit E-Protest gekontert.

Im Dezember 1999 begann die bislang wohl bedeutendste und erfolgreichste Aktion des elektronischen Widerstands. Tausende von "TOYWAR-agents" bombardierten über Wochen den Server von eToys (einer US-amerikanischen E-Commerce-Plattform für Spielzeug) mit Millionen von gefälschten, unsinnigen oder Protest-Anfragen. Der Konzern hatte die Internetadresse etoy.com für sich beansprucht, traf allerdings auf den Widerstand der Menschen, die sich diese bereits gesichert hatten. eToys gab auf, nachdem der Aktienkurs der Firma nur noch durch institutionelle Anleger vor einem Absinken ins Bodenlose gehalten wurde.

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