Mein tschechisches Leben endete letzten Herbst im Leipziger Hauptbahnhof. Vorerst zumindest. An jenem Morgen hatte ich meine wenigen Prager Habseligkeiten in eine große Reisetasche gepackt und den Schlüssel zu meiner nunmehr ehemaligen Wohnung in einen fremden Briefkasten geworfen. Wehmütig war ich zur Straßenbahn gelaufen, im Bahnhof von Holešovice hatte ich meiner geliebten Stadt theatralisch ein letztes Mal zugewunken. Und Prag? Zeigte sich wie üblich wenig beeindruckt, ganz altes Mütterchen, zuckte noch nicht mal mit einer Augenbraue, sondern murmelte mir zum Abschied höchstens so etwas zu wie: „Mach mal kein Theater jetzt, Junge. Du kommst doch eh wieder.“
So stand ich später also mit Schwermut und Heimweh in den Knochen in Leipzig, ich war auf der Durchreise, und meine schwere Tasche wollte und wollte einfach nicht passen, selbst das größte Gepäckschließfach schien zu klein, es dauerte ewig, bis es schließlich doch klappte.
Das war sie also gewesen, meine Zeit als selbsternannter Prager. Tatsächlich hatte ich über ein Jahrzehnt mit mir gehadert, hatte immer wieder in Erwägung gezogen, eine Zeitlang zumindest dauerhaft in Tschechien zu leben und mich nicht mehr nur auf wenige Tage oder Wochen oder einzelne Monate zu beschränken.
Der Auslöser war schließlich gewesen, nochmals über die tschechische Seele zu schreiben (was auch immer das jenseits der Klischees sein soll, die „Seele“ eines Landes), ein willkommener Anlass, um Nägel mit Köpfen zu machen. Um zumindest zeitweise das zu sein, wovon ich immer geträumt hatte und was ich ohnehin nie mit Haut und Haaren werden würde: ein wirklicher Prager.
Weinen um Karenin
Was will einer aus dem Ruhrpott eigentlich überhaupt da? Wieso Prag, wieso Tschechien, wieso so weit weg, könnte es, man bedenke den Sprachvorteil, nicht wenigstens so eine Stadt wie Wien werden? Ist das mit dem Heimweh jetzt nicht ein bisschen zu pathetisch? Fest steht: Kein anderes Land hat mich so sehr auf Trab gehalten wie Tschechien, nirgendwo habe ich so intensive Hochs und Tiefs durchlebt wie in Prag, schwerste Schwermut und leichteste Leichtigkeit.
Das führt mich zurück zum allerersten Anfang, meine Liebe zu Land und Leuten betreffend: Wenn ich von Prag spreche, dann spreche ich nämlich von Sehnsucht. Und wenn ich von Tschechien rede, so rede ich auch von Rührung. Ja, von einer Anrührung, wie man sie mutmaßlich nicht so oft erlebt. Mit 16 Jahren las ich Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins, und ich war verloren: Ich weinte um die Hündin Karenin, war mitgenommen von diesen melancholischen Figuren zur Zeit der Niederschlagung des Prager Frühlings, die einem ganz dicht auf die Pelle rücken, obwohl sie angeblich nur der Ideenwelt des Autors entsprungen sind.
Dass ich bei meiner von Kundera begünstigten ersten Reise nach Prag gleich mit einer aus Deutschland mitgebrachten Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus Bulovka landete, dass mich dort ein Arzt behandelte, auf dessen Namensschild „Tomáš“ stand (ja genau, so wie der gleichnamige Klinikarzt in Kunderas Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins), dass ich mich, kotzübel, Hals über Kopf in die Stadt verliebte, gehört mittlerweile zur Selbstmystifikation und zu einer immer wieder gut zu erzählenden Kneipengeschichte.
Was von böhmischer Rührung und tschechischer Sehnsucht gleich zu einem Klischee führt: Ich kann mir Prag und Tschechien nicht ohne die Kneipe vorstellen. Man hat schon das Rauchen verboten und den Wirten durch Registrierkassenpflicht das Leben komplizierter gemacht, man könnte vermutlich auch noch die Ausschankzeiten allein auf wenige Stunden am Nachmittag reduzieren, das tschechische Alltagsleben würde weiterhin um das Zentralgestirn Kneipe kreisen.
Dort geschehen noch ab und zu Zeichen und Wunder, dort werden die unglaublichsten Geschichten ausgepackt, die man selbst noch mit einer Spur Bierschaum und Fantasie verfeinert und ausgeschmückt weitererzählt, dort trifft man sich quer durch alle Schichten, um beim „Pilsener Urquell“ loszulassen, und dabei ist es irgendwann nur noch halb so wichtig, ob das Bier jetzt Alkohol enthält oder nicht.
Im Grunde habe ich mich nirgendwo in Tschechien in der Kneipe unwohl gefühlt. Es war – bis auf den zuverlässig eintretenden Kater am nächsten Morgen – immer alles gut, sei es am Tresen des spelunkigen Nonstops, wo man sofort ins radebrechende Gespräch mit verdächtig muskulösen und verdächtig verlebten Nachtgestalten kommt, sei es in der Kneipe am Fluss irgendwo in der böhmischen Provinz, wo mir der Wirt nach durchzechter Nacht einst mitleidsvoll eine Kopfwehtablette, ein Glas Cola und eine Hühnersuppe hinschob, weil er genau wusste, wie sehr ich litt.
Man wird selbst absurd
Vielleicht landet man in Tschechien ja deswegen immer wieder in der Kneipe, thematisch und rein physisch: weil man nirgendwo besser beobachten kann, wie das Leben läuft. Weil an einem einzigen Abend all die Schwermut und die Freude und die Frustration und das Glück und die Liebe und die Traurigkeit mit am Kneipentisch sitzen, in konzentrierter und komprimierter Form – was natürlich zu einem weiteren Punkt führt, den ich über die Maßen schätze, wenn ich an Tschechien denke: Humor. Die Fähigkeit, sich und dieses seltsam komische Leben möglichst in jeder seltsamen Lage komisch zu nehmen.
Welches Land hat schon ein scheiterndes Genie wie Jára Cimrman als Persönlichkeit im Repertoire, den Erfinder, der im Grunde sowohl das Dynamit als auch den Eiffelturm erdachte, nur leider immer eine Sekunde zu spät kam, um den Ruhm einzustreichen?
Und in welchem Land wird eine rein fiktive Figur (denn das ist Jára Cimrman) reinen Herzens in einer Fernsehumfrage zur größten Persönlichkeit gewählt, wie es in Tschechien wirklich passiert ist, und zwar im Jahr 2005? Wo sonst holt eine politisch aktive Künstlergruppe in einer Geheimaktion die Fahne am Amtssitz des amtierenden Präsidenten ein, um an deren Stelle eine riesige rote Unterhose zu hissen als Symbol für einen Präsidenten, dem nichts mehr peinlich ist?
Das ist die Mischung, die für mich etwas sehr Tschechisches hat: Der Humor, die Kneipe, die zahllosen Absurditäten, die man unterwegs ständig erlebt oder gar ständig selbst produziert, ja, und auch diese spezifische Melancholie gehört dazu, allein schon angesichts der Geschichte eines kleinen Landes, das immer wieder schlimme Zeiten durchzustehen hatte. So entsteht natürlich auch der ideale Nährboden für Originale.
Da ist zum Beispiel ein Prager Bekannter von mir, der an allen Orten der Stadt zugleich zu sein scheint, man trifft ihn hier und man trifft ihn dort, er ist Professor, er ist Philosoph, er ist Autor – und zugleich züchtet er in seiner Freizeit Hummeln. Da ist der Müllsortierer aus der Provinz, der zwanghaft in Reimen redet und damit Prager Poetryslams auf den Kopf stellt. Da ist der bekannte Schriftsteller, der zu einem Interview über Literatur und Kneipe am Nachmittag extrem verkatert erscheint und erst mal ein Konterbier braucht, um zu erzählen, dass man ja kaum noch in die Kneipe geht, dass das doch alles Schnee von gestern ist mit den langen Abenden und Nächten.
Wenn ich heute darüber nachdenke, was für mich typisch tschechisch ist, dann fällt mir immer wieder dieser eine Abend ein, jenseits von Prag, fast schon jenseits der Welt: Irgendwo im Altvatergebirge an der tschechisch-polnischen Grenze saß ich mit Freunden in einer winzigen Kneipe mitten im Wald fest, tiefster Winter, durch umgestürzte Bäume versperrte Wege – doch kamen plötzlich aus der Nachbarschaft lauter Leute, die von der Zusammenkunft gehört hatten, es wurden Instrumente ausgepackt, es wurde getrunken und gesungen und gespielt – der elenden Kälte und dem elenden Vergehen der Zeit zum Trotz.
Der Schriftsteller Joseph Roth veröffentlichte 1924, damals seit Jahren in Berlin lebend, einen Artikel im viel gelesenen Prager Tagblatt, dem er die Überschrift „Heimweh nach Prag“ gab. Dort sehnt er sich fürchterlich nach diesem speziellen Geist: „Es ist eine Stadt, in der ich niemals zu Hause war und in der ich jeden Augenblick zu Hause sein kann. Man braucht in Prag nicht verwurzelt zu sein. Es ist eine Heimat für Heimatlose. Sie hat keine Sentimentalität.“ Nie hatte er in Prag einen festen Wohnsitz, aber eben immer Heimweh nach dieser Stadt.
Heimat für Heimatlose
Räumlich betrachtet, würde ich sogar noch einen Schritt weiter gehen und von einem Heimweh nach Tschechien sprechen, das mich immer wieder überfällt, das seltsamerweise auch dann nicht zur Ruhe kam, als ich das ein Jahr dauernde Experiment einer Wohnung in Prag wagte.
Mein tschechisches Leben endete also vorerst im Herbst 2018, als ich die Tasche mit meinem Prager Hausrat im Leipziger Hauptbahnhof mit Müh und Not einschließen konnte. Dass an jenem Tag gleich ein ganz neues Leben beginnen sollte, als hätte das alte Mütterchen das so eingerichtet für mich, passt übrigens zu gut zu dieser Liebeserklärung hier, aber das ist eine andere Geschichte für das Bier in der Kneipe.
Neulich entdeckte ich jedenfalls jene Reisetasche im Keller wieder, ich hatte sie seit meiner Rückkehr nicht ein einziges Mal geöffnet. Ich sah ganz kurz hinein, aber bevor die Sehnsucht überhandnehmen konnte, schloss ich sie rasch und schob sie zurück in die Kellerecke. So, dass sie nicht im Weg steht, aber dennoch für alle Fälle griffbereit ist. Man weiß ja nie, wie das so weitergeht mit dem Heimweh.
Should I stay or should I go
Kommt der Brexit, wird auch Nordirland die Europäische Union verlassen müssen. Die offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland war eine grundlegende Bedingung des Friedensabkommens von 1998, nach mehr als 30 Jahren „Troubles“, blutigen Konflikten zwischen Katholiken und Protestanten. Die offene Grenze würde mit dem Brexit zur harten EU-Außengrenze, was den fragilen Friedensprozess im Land gefährden könnte. Der 1977 in Esslingen geborene Toby Binder fotografierte für Wee Muckers. Youth of Belfast (Kehrer 2019, 120 S., 35 €) Teenager aus protestantischen und katholischen Vierteln in Belfast. Die Langzeitdokumentation zeigt die Allgegenwart von Arbeitslosigkeit, Drogenkriminalität und Gewalt, die Jugendliche in Belfast schon heute belastet, egal, auf welcher Seite der „peace wall“ (Friedensmauer) sie leben.
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