Bei Abriss Aufstand

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Bei Abriss Aufstand: Wie der wachsende Bürgerprotest madig gemacht werden

Wenn dann aber doch der Druck im Kessel steigt, die Leute sich nicht mehr alles gefallen lassen und beginnen, ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen, ist der „Spiegel“ sofort zur Stelle, um die Ansätze der Gegenwehr zu ironisieren und zu verfälschen. Am 30.8.2010 erschien der Titel: „Die Dagegen-Republik. Stuttgart 21, Atomkraft, Schulreform: Bürgeraufstand gegen die Politik“. Merke: Bürger, die beginnen, selbst Politik zu machen, sind nach der verdrehten und verdrehenden Logik des „Spiegel“ „gegen die Politik“.
Reiner Diederich war bis 2006 Professor für Soziologie und Politische Ökonomie am Fachbereich „Soziale Arbeit und Gesundheit“ der Fachhochschule Frankfurt am Main. Er ist Redakteur der von Business Crime Control e.V. herausgegebenen Vierteljahreszeitschrift „BIG Business Crime“ sowie Vorsitzender der Frankfurter Kunstgesellschaft.

Der folgende Beitrag erschien zuerst in Ausgabe 04/2010 von "BIG Business Crime". Die erste Online-Veröffentlichung erschien auf NachDenkSeiten, der kritischen Website (www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=7538)

Unter der Schlagzeile „Konzerne machen Kasse“ brachte die „Frankfurter Rundschau“ am 25.8.2010 auf ihrer Titelseite folgende Information: „Der kräftige Wirtschaftsaufschwung lässt insbesondere die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen steigen. Sie verzeichneten im Frühjahr ein Plus gegenüber dem zweiten Quartal 2009 in Höhe von 21,9 Prozent. Die Arbeitnehmerentgelte legten insgesamt nur um 2,5 Prozent zu… Insgesamt lag das bereinigte Volkseinkommen im Frühjahr bei 475 Milliarden Euro (plus 8,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr).“

Mit anderen Worten: Der Anteil der Lohnabhängigen an dem, was schönfärberisch „Volkseinkommen“ genannt wird, ist schon wieder gesunken. Dabei ist vom gesamten Kuchen Bruttosozialprodukt schon das den Unternehmern wie selbstverständlich zufallende große Stück „Erhaltung des Kapitalstocks“ abgeteilt worden, bevor überhaupt vom „Volkseinkommen“ die Rede ist, an dem dann wieder die Unternehmereinkommen einen wachsenden Anteil haben.

Wenn diese Verteilungsverhältnisse jeden Abend vor der Tagesschau anstatt des weitgehend sinnfreien Börsenberichts dem staunenden Publikum erklärt würden, dann gäbe es vielleicht noch keinen Aufstand, aber zumindest eine andere Regierung. Schon jetzt empfinden zwei Drittel der Bundesbürger die Einkommensverteilung, die steuerstaatliche Umverteilung und das „Sparpaket“ der Bundesregierung als ungerecht. Sie glauben aber nicht, dass sie daran viel ändern können und lassen sich leicht von den regelmäßig veranstalteten Medien-Hypes ablenken.

Wenn dann aber doch der Druck im Kessel steigt, die Leute sich nicht mehr alles gefallen lassen und beginnen, ihre Sache selbst in die Hand zu nehmen, ist der „Spiegel“ sofort zur Stelle, um die Ansätze der Gegenwehr zu ironisieren und abzufälschen. Am 30.8.2010 erschien der Titel: „Die Dagegen-Republik. Stuttgart 21, Atomkraft, Schulreform: Bürgeraufstand gegen die Politik“. Merke: Bürger, die beginnen, selbst Politik zu machen, sind nach der verdrehten und verdrehenden Logik des „Spiegel“ „gegen die Politik“.

Illustriert war das mit der „fetten Henne“, dem in seiner ursprünglichen Gestalt aus den Zeiten des beginnenden Wirtschaftswunders stammenden Adler, der an der Stirnseite des Bundestages prangt. Dort, wo sein Herz schlagen würde, wenn er nicht aus Blech wäre, klebte eine beim Wurf zerplatzte Tomate. Rote Spritzer drumherum, so dass man auch einen Herzschuss imaginieren könnte. Ein ironisches Spiel mit dem Phantasma der „linken Gewalt“, das immer dann beschworen wird, wenn es darum geht, die Polizei präventiv aufzurüsten.

Die Titelgeschichte im Inneren des Heftes begann mit einem über beide Seiten gehenden Breitbandfoto von einer Demonstration gegen das Projekt „Stuttgart 21“. Ganz groß darin ein Transparent: „Bei Abriss. Aufstand.“ Es geht um den Abriss von Teilen des historischen Stuttgarter Sackbahnhofs zugunsten des Baus einer unterirdischen Durchgangsstrecke, die angeblich notwendig ist, um Stuttgart optimal im internationalen Bahnverkehr zu positionieren. Nach inzwischen vorliegenden Gutachten ist das von Jahr zu Jahr teurer werdende Projekt aber verkehrstechnisch ziemlich überflüssig.

Es wird zudem als nicht ungefährlich eingestuft, weil der Stuttgarter Untergrund geologische Besonderheiten aufweist. Außerdem müssten große Teile eines städtischen Parks mit altem Baumbestand für den Bau geopfert werden. Der Park soll nach dem Bau zwar wieder rekonstruiert werden, aber den Stuttgarter Bürgerinnen und Bürgern, die sich in wachsender Zahl gegen „Stuttgart 21“ engagieren, geht es um ihre Lebensqualität hier und heute.

„Stuttgart 21“ wurde 1994 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. CDU, SPD und FDP waren dafür, die Grünen von Anfang an dagegen und die inzwischen im Stadtparlament vertretene Linke ist es auch. Die große Koalition für den städtebaulichen Gigantismus lässt sich nur erklären, wenn man einbezieht, dass es nicht nur um den neuen Bahnhof geht, sondern auch um die freien Flächen, die durch die Verlegung der Gleise unter die Erde entstehen. Die können lukrativ bebaut werden und wecken die Phantasie von Investoren und Stadtkämmerern.

Man kann sich den kommunal- und landespolitischen Filz und das Knäuel miteinander verquickter Interessen gut vorstellen, die hinter einem solchen Großprojekt stecken. Auch wenn direkte Korruption keine Rolle gespielt haben sollte, sind die Netzwerke der Entscheider und Profiteure bei so einem Unternehmen auch persönlich dicht geknüpft. Aus der Reihe tanzen nun Gutachter, die die Kostenexplosion und andere Probleme nicht mehr verschweigen wollen oder können.

Mit aller Gewalt soll „Stuttgart 21“ dennoch gegen die Bürgerinnen und Bürger durchgesetzt werden. Aber es gibt in der Bundesrepublik genügend Beispiele für erfolgreichen Protest. Vor allem beim Kampf gegen die hoch riskante Atomenergie wurden einige Erfolge erzielt, was nun dem Widerstand gegen den „Ausstieg vom Ausstieg“ Auftrieb gibt. Und auch im Kampf gegen die Privatisierung kommunalen Eigentums gab es Erfolge, wie zum Beispiel die Verhinderung des „Cross Border Leasing“ der U-Bahn in Frankfurt am Main.

Inzwischen unterstützen Prominente und selbst die baden-württembergische SPD einen Volksentscheid zu „Stuttgart 21“. Letztere, um möglichst ohne Gesichtsverlust aus dem Projekt aussteigen zu können.

Auf welcher Seite der „Spiegel“ bei diesem und anderen Konflikten steht, wird schon durch die Überschrift seiner Titelgeschichte über die angebliche „Dagegen-Republik“ deutlich: „Volk der Widerborste“. Widerborste sind in der Kindheit geschädigte Menschen, die später aufgrund ihrer frühen Gewalterfahrungen „aus Prinzip dagegen“ sind, auch wenn es ihnen selbst und anderen nichts bringt.

Der „Spiegel“ geht aber in seiner subtilen Diffamierung des Bürgerprotests noch einen Schritt weiter: „Das ist gerade die Hauptkampflinie im Land: Bürger gegen Politiker. Auf den ersten Blick ist das eine gute Entwicklung. Die Demokratie lebt, die Menschen mischen sich ein, machen mit. Aber das heißt nicht, dass eine bessere Gesellschaft dabei herauskommt. Viele Proteste richten sich gegen Projekte in den Bereichen Verkehr und Energie und damit auch gegen eine Modernisierung des Landes.“

Modernisierung – mit diesem Begriff wird seit langem Schindluder getrieben, indem die Gegner einer Abrissmentalität und schrankenlosen Kapitalverwertung als hoffnungslos altmodische Traditionalisten und Verweigerer des Fortschritts in die Ecke gestellt werden sollen.

Doch der „Spiegel“ geht noch weiter: Es sei die Frage, ob sich beim Bürgerprotest der Staatsbürger zeige, der das Allgemeinwohl im Blick hat, oder „ist es das Individuum, der Egoist, der es nicht ertragen kann, wenn sich seine saturierten Lebensverhältnisse zu Gunsten der Gesellschaft ändern sollen? Dann wäre das kein Fortschritt, dann würde das gelten, was Franz Josef Strauß zu sagen pflegte: vox populi – vox Rindvieh“.

Dass der „Spiegel“ hier ausgerechnet Strauß mit seiner die „dumpfe Masse“, die er ständig ansprach und agitierte, verachtenden Aussage zitiert, ist kein Zufall. Strauß war der wohl korrupteste und gefährlichste Politiker, den die alte Bundesrepublik hervorgebracht hat. Er hofierte nicht nur Faschisten wie den chilenischen Diktator Pinochet, er war an wirtschaftskriminellen Machenschaften in großem Stil beteiligt, was ihm ein Millionenvermögen einbrachte. Ihn zum Kronzeugen gegen bürgerschaftliches Engagement zu machen, zeigt, wie tief der „Spiegel“ seit den Zeiten gesunken ist, in denen er die Affären des Franz-Josef Strauß aufgedeckt und angeprangert hat.

In dem Artikel werden auch Fakten genannt wie die erfreuliche Entwicklung, dass Bürgerbegehren und Volksbegehren von Jahr zu Jahr zunehmen. Der Verein „Mehr Demokratie“ wird vorgestellt, der sich für eine Erweiterung der Möglichkeiten direkter Demokratie einsetzt. Über den Trend zur Aufstellung von „Bürgerhaushalten“ in Städten und Gemeinden wird sachlich berichtet.

Aber die Tendenz des Ganzen kommt spätestens an der Stelle deutlich zum Vorschein, wo entgegen aller Logik behauptet wird, dass der wachsende Protest „auch ein Zeichen von nachlassendem Zusammenhang“ sei. Dabei wird auf die abnehmende Beteiligung an Vereinen, Gewerkschaften und Parteien verwiesen. Dass in dieser Situation der Bürgerprotest einen neuen Zusammenhalt gegen die Vereinzelung und die Unterwerfung unter den „stummen Zwang“ der Verhältnisse stiften könnte, kommt den Autoren des „Spiegel“-Artikels nicht in den Sinn.

Ihre Sorge: „Damit könnte auch die Bereitschaft sinken, ein Opfer für die Gesellschaft zu bringen“. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Nach all den Notopfern der arbeitenden oder unverschuldet arbeitslosen Bevölkerung für Banken und die ungestörte Profitmacherei sorgt sich der „Spiegel“ darum, dass die Opferbereitschaft durch Protestaktionen nachlassen könnte.

Dazu sind Proteste doch da: Endlich aus der bloßen Opferrolle heraustreten, die Ohnmacht überwinden!

Ergänzung meinerseits: Den kommunal- und landespolitischen Filz und das Knäuel miteinander verquickter Interessen braucht man sich mittlerweile nicht nur vorzustellen, er ist durch Fakten belegt. So gibt es Interessenverflechtungen zwischen früheren und aktiven Mitgliedern der baden-württembergischen Landesregierung zum Weltmarktführer der Tunnelbau-Bohrmaschinen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Betzwieser

Personifizierter Ärger über Meinungsmanipulation, Kino- und Kabarattliebhaber

Martin Betzwieser

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