Der besondere Dokumentarfilm-Tip: PLASTIC PLANET

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“Früher einmal war die Erde ohne Plastik. Doch dann kam der große Auftritt des belgischen Chemikers Leo H. Bakeland. In den Jahren 1905 bis 1907 entwickelte er Bakelit, das erste vollsynthetische Produkt aus Erdöl. Seither schlägt der Fortschritt ein Rad um das andere. Nach der Steinzeit, der Bronze- und der Eisenzeit haben wir jetzt die Plastikzeit. Wir sind Kinder des Plastikzeitalters.” Was wir hören, steht in traurigem Kontrast zu dem, was wir sehen: ein idyllisches Gebirgstal. Wolken, Wälder, blauer Himmel - Natur pur.

Super-8-Filmaufnahmen zeigen den Regisseur als Kind, das Plastik liebt. All die wunderbaren, knallbunten und vor allem gut riechenden Spielsachen hat er von seinem Großvater bekommen, der in den 60er Jahren Geschäftsführer der deutschen Interplastik-Werke war. Die kindliche Liebe ist längst erwachsener Ernüchterung gewichen. Vor 40 Jahren wurden in Europa pro Jahr fünf Millionen Tonnen Plastik produziert - für den Großvater der Beweis, dass Plastik eine große Zukunft hat. John Taylor, Präsident von Plastic-Europa, der Dachorganisation europäischer Kunststofferzeuger, kann über diese Zahlen nur müde lächeln. Der mächtige Lobbyist hat sich für diesen Film ausnahmsweise zu einem Interview bereit erklärt “Zurzeit werden in Europa ca. 60 Millionen Tonnen Plastik pro Jahr produziert”, sagt er. “Das ist etwa ein Viertel der Weltproduktion. Die Menge des Kunststoffs, die wir in den letzten 100 Jahren produziert haben, würde reichen, um den gesamten Erdball sechsmal einzupacken.” Alles andere als knallbunte Aussichten.

Inhaltsangabe aus dem Programm der Internationalen Hofer Filmtage[2] Oktober 2009; dort hatte PLASTIC PLANET deutsche Erstaufführung.

Dokumentarfilme von heute sind nicht mehr mit Dokumentarfilmen von vor zehn oder zwanzig Jahren zu vergleichen. Interviews und Straßenimpressionen abzufilmen und mit alten Originalaufnahmen zu garnieren – wie es zuletzt u.A. noch bei der Dokumentation “Die Anwälte – eine deutsche Geschichte” praktiziert wurde – scheint nicht mehr zeitgemäß zu sein. Um Publikum anzulocken, müssen Dokumentarfilme heute spannend und unterhaltsam wie Spielfilme sein. Michael Moore war der erste Dokumentarfilmer, der dieses Konzept konsequent verfolgte. Der Österreicher Werner Boote verfolgt dieses Konzept ebenfalls erfolgreich, ohne Michael Moore´s Stil zu kopieren. Er bindet Filmaufnahmen und Fotos aus seiner frühesten Kindheit ein, besucht Lobbyisten, und Forscher/innen, mischt die Fachbesucher eines Chemiekongresses auf, lässt sein eigenes Blut auf Schadstoffe durch den Gebrauch von Plastik untersuchen und verwandelt sich auch mal in ein Zeichentrickmännchen mit Manga-Knopfaugen, das auf einer Molekülkette durch das Periodensystem der Elemente und eine virtuelle Fabrik fliegt, um chemische Prozesse und deren Folgen zu erklären. Und diese Folgen sind extrem negativ und schädlich. So verursacht eine Chemikalie, die in Getränkeflaschen und Schnullern enthalten ist Veränderungen im Hormonhaushalt und Schädigungen von Erbgut und Gehirn und steht im Verdacht, krebserregend zu sein (inzwischen wollen mehrere Hersteller und Anbieter von Schnullern auf entsprechende Produkte verzichten). Auch ein Besuch bei der zuständigen EU-Kommisarin ist eher ernüchternd. Sie berichtet von den “Erfolgen” der “wirksamsten Chemikalienrichtlinie der Welt”, mit deren Hilfe es wirklich möglich war, innerhalb von einem Jahr bisher zehn oder zwölf von über 100.00 Chemikalien auf deren mögliche schädliche Wirkung zu prüfen.Werner Boote greift dann auch bewusst zu Mitteln der Agitation, indem er Supermarktkunden/innen mit dem Megaphon beschallt und in Plastik eingeschweißte Lebensmittel mit Aufklebern wie “Plastik verursacht Krebs” dekoriert. Diese Aktionskunst praktiziert Werner Boote auch während des Filmfestivals vor Ort , indem er die Senf- und Ketchupflaschen des Bratwurststandes vor dem Kinocenters mit dekorativen Aufklebern verziert.

Die excellente Filmmusik stammt übrigens von The Orb, einer der bedeutendsten und einflussreichsten Gruppen im Bereich elektronische Musik. PLASTIC PLANET, ein sehr wichtiger, ernsthafter und trotzdem humorvoller und unterhaltsamer Film. In Deutschland wird der Film am Donnerstag, den 25. Februar 2010 starten.

Regie: Werner Boote

Österreich, Deutschland 2009, deutsche Originalfassung, teilweise englische Originalfassung mit deutschen Untertiteln

Wer Film und Filmemacher teilweise vor dem regulären Bundesstart kennen lernen möchte, hat dazu hier die Gelegenheit. Und ein Interview mit dem Filmemacher Werner Boote im Deutschlandradio finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Betzwieser

Personifizierter Ärger über Meinungsmanipulation, Kino- und Kabarattliebhaber

Martin Betzwieser

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