Es war einmal in Lanzarote

Flüchtlingsgedöns: Dass Menschen wegen Krieg und wirtschaftlichre Not fliehen, ist nicht neu - Reaktionen aus Politik und Medien auch nicht. Ein kleiner Rückblick ins Jahr 1996.

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Im September 1996 machte ich Urlaub auf der Kanareninsel Lanzarote. An einem meiner Urlaubstage war der Strand, in dessen Nähe das Hotel lag, gesperrt. Was war passiert? In der Nacht war ein mittelgroßes Boot mit 40 bis 50 Afrikanern am Strand angekommen. Ungefähr die Hälfte von ihnen war bereits tot. Die Jogger und Frühschwimmer, die am Morgen am Strand unterwegs waren, leisteten im Rahmen der Möglichkeiten Erste Hilfe und versorgten die Bootsflüchtlinge mit Getränken und Essen. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung – Mobiltelefone waren noch eine Seltenheit – wurden die Überlebenden ins Krankenhaus der Inselhauptstadt Arecife eingeliefert.

Der Strand blieb einen kompletten Tag gesperrt. Die Polizei musste bis zur Aufklärung die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass die Toten nicht Opfer von Gewaltverbrechen waren, und suchten den Strand und die Umgebung nach möglichen Spuren ab.

Über die Herkunft der Menschen, ihre Schicksale, ihre Reiseroute erfuhren wir nichts. Über das weitere Schicksal der Überlebenden erfuhren wir außer der Krankenhauseinlieferung nichts.

Die Bootsflüchtlinge waren eigentlich nur unter einem Aspekt ein Thema für Urlauber und Medien. Die Urlauber – besonders Deutsche und Briten – ärgerten sich sehr darüber, dass ihnen ein Urlaubstag am Strand ruiniert worden war.

Auch für den deutschsprachigen Radiosender auf Lanzarote war das Flüchtlingsunglück nur die Informationen wert, ab wann der Strand wieder durch die Urlauber genutzt werden konnte. Eine eigene Nachrichtenredaktion gab es bei dem Sender nicht, journalistisches Feingefühl auch nicht. Das Programm bestand neben dem üblichen Musikgedudel aus so genannten Informationen über Sehenswürdigkeiten, Einkaufsgelegenheiten und Abendunterhaltung. Ein Schlagersänger aus der deutschen C-Liga hatte zwischenzeitlich die Dorf-Discos und Kirmes-Zelte der deutschen Provinz verlassen, um mit seiner Heimorgel durch die Clubs und Hotelanlagen der Kanarischen Inseln zu tingeln. Am Tag des Flüchtlingsdramas durfte er seine CD und seinen Tourneeplan im Radio vorführen.
Auf Nachfrage in der Heimat waren Leben und Sterben dieser Afrikaner kein Thema in den deutschen Medien.

An den darauf folgenden Tagen wurden noch einzelne Leichen an den benachbarten Stränden angetrieben, die teilweise von Fischen angefressen waren. Darüber berichtete die Mundprogaganda deutscher Urlauber, nicht der deutsche Inselfunk.

Und danach?

Vor über zehn Jahren rettete die Flüchtlingsorganisation Cap Anamur Schiffbrüchige aus dem Mittelmeer. Der damalige Chef der Hilfsorganisation Elias Bierdel und der Kapitän des Schiffs wurden wegen organisierter Schleuserei vor Gericht gestellt. Die Bedeutung von Menschenleben wird da klar gestellt.

Es ist auch kein Geheimnis mehr, dass FRONTEX, die Grenzschutzorganisation der Europäischen Union, den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer Wasser und Treibstoff weg nahm, um sie an der Überfahrt zu hindern.

Und heute?

Politikerinnen und Politiker sondern die mehr oder weniger gleichen Sprechblasen darüber ab, was getan werden müsse, und tun darauf hin nichts. Einen Flüchtlingsgipfel werde es vielleicht geben. Es ist die Kakophonie der Betroffenheit.

Dabei werden die Opfer ganz zynisch formuliert für viele verantwortliche Politiker einen positiven Nebeneffekt haben. Sie schrecken potentielle Flüchtlinge möglicherweise ab – das kann nicht schaden. Mit solchen Überlegungen begehen die Verantwortlichen der Europäischen Union unterlassene Hilfeleistung – hier sehr treffend von Heribert Prantl in der Süddeutschen kommentiert.

Bei den deutschen Qualitätsmedien spielte am Tag des Massensterbens und danach der bevorstehende Weggang von Trainer Jürgen Klopp eine größere Rolle als das Schicksal der verreckten Flüchtlinge. Also auch nichts Neues.

Die Situation der Menschen in ihren Herkunftsländern soll verbessert werden. Wie soll das gemacht werden und warum wurde es nicht früher gemacht. Afrikanische Länder werden gezielt mit hochsubventionierten landwirtschaftlichen Produkten aus der Europäischen Union beliefert. Die einheimische Landwirtschaft ist nicht konkurrenzfähig und geht kaputt. Verbessert man so die Situation der Menschen in ihren Herkunftsländern?
Warum werden Menschen an den Küsten Somalias Piraten? Was war passiert? Riesige Fischereiflotten aus Europa, Asien und den USA fischen seit Jahren alles aus diesen Meeren, was zu bekommen ist. Die Fischer verloren ihre Lebensgrundlagen und wurden zu Piraten und damit zu den Feinden großer Handelskonzerne. Die militärische Abwehr von Piraten kostet sicher um ein Vielfaches mehr als die Rettung von Schiffbrüchigen. Verbessert man so die Situation der Menschen in ihren Herkunftsländern?
Sonst sind die Länder Afrikas nur als Rohstoffquellen von Bedeutung.

Also weiter mit der Kakophonie der Betroffenheit.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Betzwieser

Personifizierter Ärger über Meinungsmanipulation, Kino- und Kabarattliebhaber

Martin Betzwieser

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