Endlich mal wieder ein Filmfestival

Kino + Film Nach drei Jahren Pause bin ich wieder beim japanischen Filmfestival Nippon Connection.

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2019 starb kurz vor Festivalbeginn meine Mutter mit immerhin 89 Jahren und ich war nicht in Stimmung. 2020 und 2021 gab es Nippon Connection nur virtuell. Bei der Einrichtung eines Kontos bei dem führenden Internet-Zahlungsdienstleister, dessen Namen ich nicht nenne, gab es Pannen und die Anmeldung zu den ersten virtuellen Vorstellungen klappte nicht rechtzeitig. Den Internet-Zahlungsdienstleister verwendete ich danach nie wieder, bekomme aber immer noch Werbung und werde über die Änderung der alltemeinen Geschäftsbedingungen informiert. Also pausierte ich 2020 und 2021.

Ich freue mich sehr. Die Stimmung ist immer sehr angenehm. Auch das Publikum ist im Vergleich zum Publikum im normalen Kinobetrieb sehr angenehm. Den Eröffnungsabend mit Laudatio aus der Kulturpolitik von Stadt und Land und dem japanischen Konsulat sowie einem meistens durchwachsenen Filmdrama spare ich mir. Bei den Filmen konzentriere ich mich überwiegend auf Vorstellungen im Eldorado-Kino. Das Eldorado mit 200 Sitzplätzen in Parkett und Balkon ist zum ersten mal bei #NipponConnection dabei. Die Plätze sind bequem und für mehrere Filmvorstellungen am Tag besser geeignet als die begrenzt bequemen Sitze im Mouson-Theater, die kurze Sitzflächen und niedrige Lehnen haben. Ein kleiner Nachteil im Eldorado ist, dass der Balkon an der vorderen Kante halbrund ist und an vielen Plätzen am Rand des Balkons das Geländer am Bildrand zu sehen ist.

Die Planung ist etwas schwierig, da im Terminkalender auf der Internetseite nur die jeweils ersten Vorstellungen eines Filmes in der chronologischen Terminliste angezeigt werden und Wiederholungsvorstellungen fehlen. Später im gedruckten Programmheft wird es einfacher.

Die Inhaltsangaben, die wiedergegeben werden, stammen aus dem Filmprogramm von NipponConnection. Ergänzungen und Bewertungen stammen von mir. Deutschland- und Europapremieren können vom Publikum mit Papierkärtchen bewertet werden, wobei die Bewertung von einem Stern (schlecht) bis fünf Sterne (super) geht.

Mittwoch, 25. Mai:

Ich bin rechtzeitig am Eldorado-Kino. Der Verkauf der noch vorhandenen Karten soll jeweils eine halbe Stunde vor der Vorstellung beginnen. Die Kinoangestellte weiß nichts. Der Verkauf erfolgt durch Festival-Mitarbeiter*innen, wahrscheinlich in 20 Minuten. Dann gehe ich ein Eis essen, stöbere im Festivalprogramm und stelle mich an einer Schlange an. An der Kasse steht eine Nippon-Mitarbeiterin, die scheinbar Eintrittskarten hat. Sie ist aber nicht mit dem Verkauf beschäftigt sondern tippt und liest Nachrichten abwechselnd in zwei Mobiltelefonen. Nach einigen Minuten möchte ich fragen, ob und wann es Karten zu kaufen gibt. Sie kommt mir zuvor und fragt, ob noch jemand eine Karte braucht. Da melde ich mich und kaufe eine Karte. Alle Anderen in der Schlange sind scheinbar schon mit Karten versorgt und warten auf Einlass, während die Vorstellung davor mit Fragen an den Regisseur noch läuft. Es scheint Probleme bei der Organisation zu geben. Die Schlange geht inzwischen im Freien weiter bis an die Straße. Vielleicht sollte dort gefragt werden, ob noch jemand Karten braucht, aber das ist nicht meine Aufgabe.
Karten für folgende Vorstellungen an den nächsten Tagen gibt es nicht. Es gibt immer nur die restlichen Karten für die jeweils aktuelle Vorstellung.

17:45 Uhr: INU-OH 湯浅政明

Vor 600 Jahren in Japan: Während politische Machtkämpfe toben, wird ein Kind mit einem verhexten Körper geboren und von allen wie ein Tier behandelt. Doch Inu-Oh entpuppt sich als begnadeter Tänzer! Aus dem Monster wird ein Popstar und bald stiehlt er den klassischen Tanzgruppen zu Hofe die Show – bis die Mächtigen beginnen, sich vor seinem Einfluss zu fürchten. Zügellos interpretiert Masaaki YUASA in seinem meisterhaften Animationsfilm die Vergangenheit seines Landes als Rock-Musical. Spätestens seit seinem Kultfilm MIND GAME (2004) zählt er zu den markantesten Stimmen des japanischen Animationskinos.

Auch die Vergabe der Sitzplätze ist etwas merkwürdig. Gibt es im Kino noch jeweils mehrere nebeneinander liegende freie Plätze an verschiedenen Stellen, werden einfach ohne Nachfrage Karten vergeben, die von Publikum umgeben sind. In allen Innenräumen einschließlich der Kinosäle gilt Maskenpflicht. Daran hält sich fast das gesamte Publikum. Es ist etwas anstrengend, aber es geht. Interessanterweise staunt japanisches Publikum über die Einstellung mancher Deutscher, die eine Corona-Diktatur unterstellen. In asiatischen Großstädten tragen die Menschen seit Jahrzehnten bei kleinsten Erkältungssymtomen Mund-Nase-Masken, um niemanden anzustecken und einfach aus Höflichkeit. Es hat auch mit der Luftverschmutzung zu tun. Die scheinbar einzige Frau ohne Maske im Publikum sitzt genau neben mir und sie ändert das auch nicht trotz einer Ansage vor dem Film. Nach einer halben Stunde setze ich mich auf einen anderen freien Platz.
Der Film ist interessant und sowohl optisch als auch musikalisch mitreißend. Der Film ist scheinbar durch historische und kulturelle Hintergründe inspiriert, die ich nicht kenne und bei denen die Japaner*innen im Publikum jubeln.
Bewertung 3,5 von 5 Sternen ***

Später fahre ich noch zum Festivalzentrum, schaue mir alles ein bischen an, decke mich mit Eintrittskarten für die nächsten Tage ein und genieße ein Ramen-Miso-Süppchen.

Donnerstag, 26. Mai.

Meine erste Vorstellung ist um 11:30 Uhr im Festivalzentrum in der Nähe vom Frankfurter Zoo.

Öffentliche Verkehrsmittel: Ein Albtraum

Um kurz nach 10:30 Uhr bin ich an meiner S-Bahn-Station. Eine S-Bahn verpasse ich knapp. Die Nächste würde planmäßig in zehn Minuten kommen, hat aber Verspätung. Die nächste Bahn kommt nach der Anzeigetafel in 24 Minuten und die übernächste gleich in 25 Minuten. Aus den 24 Minuten werden 35 Minuten und die Bahn hält zwischenzeitlich noch auf offener Strecke. Auch das Publikum ist ein Albtraum. Viele Fahrgäste tragen keine Maske und eine Frau raucht eine Zigarette.

Ich schaffe es bis 11:35 Uhr ins Festivalzentrum und das ist nur möglich, da ich mein Fahrrad immer dabei habe. In dieser Zeit hätte ich die Strecke auch rechtzeitig mit dem Fahrrad geschafft. Rechtzeitig zum Filmstart bin ich im Theatersaal. Die Sitze bieten genut Platz für den Popo und die halben Oberschenkel und die Lehne geht bis zur Mitte des Rückens. Bequem geht anders. Auch hier tragen brav alle Leute im Publikum, die ich erkenne, ihre Masken.

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Diese dekorativen Fahrräder stehen an mehreren Stellen in der Nähe des Festivalzentrums. In dem Gepäckträgern liegen Programmhefte und Infomaterial.

11:35 Uhr im Festivalzentrum Mousonturm: Parasite In Love | 柿本ケンサク

Kengo leidet unter Mysophobie – der Angst vor Schmutz, Viren und Bakterien. Er lernt Hijiri kennen, die sich aufgrund einer Scopophobie – der Angst, gesehen zu werden – ebenfalls komplett von der Umwelt abschottet. Zwischen beiden bahnt sich eine unwahrscheinliche Liebesgeschichte an. Doch bald sind sie sich nicht mehr sicher: Verlieben sie sich wirklich oder manipuliert ein mysteriöser Parasit ihre Gefühle und ihr Verhalten? Kensaku KAKIMOTO gelingt mit seiner Adaption des gleichnamigen Mystery-Mangas eine visuell aufregende Variante eines Liebesfilms.

Beide sind tragische Figuren. Kengo hat als Folge seines krankhaften Waschzwangs ganz rauhe und wunde Hände. Er ist Computerprogrammierer und erhält von einem Unbekannten den Auftrag, dessen Tochter zu überwachen. Sie ist Hijiri, die permanent Musik über Kopfhörer hören muss, um sich von den Blicken anderer Menschen abzulenken. Die Geschichte ist einfühlsam und voller Respekt vor beiden Charakteren und mit visuellem Einfallsreichtumg erzählt und sehr gut gespielt, wobei Vieles als Computereffekte zu erkennen ist, was nicht immer gut zur Geltung kommt. Unklar ist, ob die Parasiten in den Gehirnen unseres Paares echt oder Einbildung und folge einer psychischen Krankheit ist.
3,5 von 5 Sternen ***

Danach decke ich mich mit weiteren Eintrittskarten ein und habe wieder Lust auf etwas Leckeres aus Japan. Aber die Schlange ist enorm lange und ich fahre woanders hin. Die nächste Vorstellung beginnt in über zwei Stunden.

Auf dem Hof wird ein Interview mit einem Filmexperten zum eben gesehenen Film geführt, das ich teilweise mit anhöre. Die Stimme meine ich, aus einem Film-Podcast zu kennen, kann sie aber nicht zuordnen.

15:30 Uhr: Millennium Actress | 今敏 (2001) von Satoshi Kon

Im Mittelpunkt des zweiten Animationsfilms von Regielegende Satoshi KON (1963–2010), stehen die Erinnerungen der Schauspielerin Chiyoko an ihre Karriere und ihre große Liebe. KON lässt virtuos Fiktion, Erinnerung, Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen. Wir zeigen die 4K-Restauration des vielfach ausgezeichneten Klassikers.

Ein Mitarbeiter des Verleihs bzw. Vertriebs gibt eine informative Einleitung. Demnach ist die Geschichte von den Lebensgeschichten und Karrieren dreier berühmter japanischer Filmschauspielerinnen inspiriert.
In der Rahmenhandlung wird die alte Chiyoko viele Jahre nach ihrem Karriereende von einem Dokumentarfilmer und seinem Kameramann ausfindig gemacht und interviewt. Ihre Erinnerungen lassen durch fortschreitende Demenz immer weiter nach. In den Rückblenden, die wir sehen, tauchen die beiden Filmleute immer wieder auf.
Mit der 4K-Version wird es allerdings nichts, denn das Kino hat nur einen 2K-Projektor.
Herausragend. Volle Stern-Zahl *****

Freitag, 27. Mai 2022

Leute in der Nachbarschaft begehen den „Vatertag“ und den folgenden Brückentag damit, dass sie im Garten feiern, grillen und bis in die Nacht singen und grölen. Mehrfach werde ich aus dem Tiefschlaf gerissen. Wir wohnen in verschiedenen Straßen aber unsere Gärten sind in Sicht- und Hörweite. Meine zunächst höflichen Rufe vom Garten aus, bitte ruhig zu sein, werden mit noch lauterem Gegröle und mit Rülpsen beantwortet. Ich bin soweit, die Polizei zu rufen. Aber jemand kam vorher auf die Idee und die Uniformierten tauchen im Garten auf und beenden die Party. Es ist kurz vor 3:00 Uhr.
Als notorischer Frühaufsteher kann ich auch nach einer solchen unruhigen Nacht nicht bis zum Vormittag schlafen und bin um 6:30 Uhr wach. Nach einem starken Morgenkaffee entschließe ich mich spontan, zu den nächtlichen Ruhestörern*innen zu radeln und sie gnadenlos aus dem Bett zu klingeln. Nach einigen Minuten tauchen zwei verkaterte Bewohner oder Übernachtungsgäste zusammen mit einer Geruchswolke aus Aromen von Alkohol und Erbrochenem an der Tür auf.
„Guten Morgen. Ich wollte nur mal, dass Sie wissen, wie es ist, dauernd aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden. Ich komme dann in einer Stunde noch mal.“
Und was hat das mit Nippon Connection, dem japanischen Filmfestival und den Filmen, die ich schaue, zu tun? Durch den entgangenen Schlaf der vergangenen Nacht nicke ich am Nachmittag in meinem Fernsehsessel ein und falle in Tiefschlaf. Um kurz vor 18:00 Uhr wache ich auf, weil es draußen ein bischen hagelt. Meine einzige Vorstellung an diesem Tag wäre gewesen um

17:30 Uhr im Eldorado: My Brother, The Android And Me | 阪本順治

Ingenieur Kaoru kommt nicht mit seiner Umwelt zurecht und richtet sich als Zufluchtsort ein privates Labor in einem verlassenen Krankenhaus ein. Sein Ziel: Einen Androiden zu erschaffen, der als sein zweites Ich den Alltag besser meistern kann als er. Doch das Experiment nimmt eine unerwartete Wendung. Junji SAKAMOTO haucht in seinem visuell und stilistisch beeindruckenden Film den Prometheus- und Frankenstein-Mythen neues Leben ein. Dabei verbindet er kühlen Modernismus mit Science-Fiction und Gothic-Elementen zu einem philosophisch komplexen Drama.

Samstag, 28. Mai: Klassiker Tag im Kino des Deutschen Filmmuseums

15:00 Uhr im Deutschen Filmmuseum: Mystery Train

Anlässlich der Auszeichnung des Schauspielers Masatoshi NAGASE mit dem NIPPON HONOR AWARD zeigen wir MYSTERY TRAIN von Jim Jarmusch als 35mm-Filmkopie. Der Kultfilm aus dem Jahr 1989 erzählt drei Geschichten von Menschen, die eine Nacht im heruntergekommenen Hotel Arcade in Memphis verbringen, der Heimatstadt von Elvis Presley. Für Masatoshi NAGASE war die Zusammenarbeit mit Jarmusch das Sprungbrett für seine internationale Karriere.

Drei Paare bzw. Gruppen verbringen zeitgleich einen Abend und eine Nacht in drei Zimmern des Hotels. Kurz vor jeder Episode ist jeweils ein Knall zu hören. Das japanische Liebspaar erholt sich von einer Besichtigungstour zu den wichtigsten musikalischen Orten in Memphis. Eine Italienerin, die ihren Ehemann oder einen nahen Verwandten im Sarg nach Rom begleiten wird, teilt sich das Hotelzimmer mit einer jungen Frau, die sich kurz vorher von ihrem Freund trennte. Der Italienerin erscheint der Geist von Elvis im Hotelzimmer. Drei Gauner verstecken sich im Hotelzimmer und streiten; unter ihnen ist Joe, der Ex-Freund der jungen Frau aus Episode 2. Zum Schluss bekommt einer – der sehr junge Steve Buscemi (RESERVOIR DOGS) ins Bein geschossen.
Es war schön, ihn mal wieder auf der Leinwand zu sehen. Die 35mm-Kopie aus der Erstaufführungszeit ist überwiegend in guten Zustand. Die Tonspur brummt leider längere Zeit. Kratzer und andere Abnutzungsspuren tragen sehr zur nostalgischen Stimmung bei. Insgesamt scheint der Film etwas aus der Zeit gefallen zu sein.
Nach der Vorstellung gibt es ein Interview und eine längere Fragerunde mit Masatoshi Nagase über Videokonferenz.
Vier Sterne ****

18:00 Uhr im Deutschen Filmmuseum: Children Hand In Hand | 手をつなぐ子ら von 1964

Die Kindheit ist eine Zeit voller Grausamkeit, Geborgenheit und des gemeinsamen Wachsens. In CHILDREN HAND IN HAND nutzt Susumu HANI seinen faszinierenden dokumentarischen Stil und erzählt die Geschichte eines lernbehinderten Jungen, der mit den Demütigungen und den zärtlichen Freundschaftsbekundungen seiner Klassenkameraden zurechtkommen muss. Ohne zu verurteilen, fesselt HANI in seinem Remake des gleichnamigen Films von Hiroshi INAGAKI aus dem Jahr 1948 mit oft überraschenden Einsichten zum Wesen des Menschen.

Der Film bietet einen guten Eindruck in die Erziehungsmethoden und den Konkurrenzdruck der Schulen im ländlichen Japan der 1960er Jahre und ist von den jungen Darstellern*innen sehr gut und intensiv gespielt. Die englischen Untertitel sind teilweise wegen der Kontraste im Schwarz-weiß-Material schwierig zu lesen.
Vier Sterne ****

Auf dem Heimweg kollidiere ich fast mit einem Elektro-Roller-Faher, der mir rücksichtslos entgegen kommt, an einer engen Stelle der Meinung ist, ich als Fahrradfahrer müsse ihm als motorisiertem Fahrer grundsätzlich die Vorfahrt lassen und mich als – Verzeihung, Zitat – „Hurensohn“ beschimpft.

Sonntag, 29. Mai

Der Animationsfilm BELLE im Festivalzentrum ist ausverkauft. Hier passte ich beim Kartenvorverkauf nicht auf. Eine Wiederholungsvorstellung im Eldorado-Kino wäre eine gute Idee gewesen. Aber er wird zum Heimkinostart eine kurze Zeit im Kino haben.

14:30 Uhr im Eldorado: Intolerance | 吉田恵輔

In einer japanischen Kleinstadt kommt ein junges Mädchen ums Leben. Die Einwohner sind fassungslos und die Medien wittern ein gefundenes Fressen: Sie stürzen sich auf die Umstände des Todesfalls und suchen einen Schuldigen. Die Hinterbliebenen haben keine Ruhe mehr vor den Reportern, die die Story Tag und Nacht verfolgen. Mit INTOLERANCE analysiert Regisseur Keisuke YOSHIDA schonungslos, wie Vorurteile entstehen und welche existenziellen Auswirkungen Skandalberichterstattung auf das Leben von Menschen haben kann.

Bei ihrem Vater, einem mürrischen und cholerischen Fischer, hat es die junge Schülerin nicht leicht. Sie darf kein Mobiltelefon und keine Kosmetik haben. Im Supermarkt wird sie beim Ladendiebstahl beobachtet, flieht zu Fuß, wird vom Ladenbetreiber verfolgt und dabei von einem Wagen überfahren. Da wäre sie vielleicht noch zu retten gewesen, wird aber auf offener Straße von einem LKW überfahren, der eine riesige Blutspur hinterlässt. Alle Beteiligte machen sich große Vorwürfe und haben Schuldgefühle, wobei ausgerechnet der LKW-Fahrer, der den größten Schaden verursachte, nach einer kurzen Befragung durch die Polizei keine Rolle mehr spielt, was unlogisch ist. Der Vater kann nicht mit der Trauer umgehen und erfährt erst Erleichterung und eine charakterliche Veränderung, als er sich mit dem Leben seiner Tochter auseinandersetzt.
Mit kleinen dramaturgischen Schwächen ist der Film insgesamt gut erzählt und inszeniert und sehr gut gespielt.
Vier von fünf Punkten ****

Bei dieser und der nächsten Vorstellung habe ich einen Platz ganz links in der letzten Reihe des Balkons mit der Platznummer 13. Das ist sehr interessant, denn diese Sitzreihe hat nur zwölf Plätze. Sollte bei einer ausverkauften Vorstellung jemand Platz 12 beanspruchen könnte es spannend werden.

16:45 Uhr im Eldorado: Sing A Bit Of Harmony | アイの歌声を聴かせて

Shion kommt an eine neue Schule und ist aufgrund ihrer offenen Art bald bei allen Mitschüler*innen sehr beliebt. Was niemand ahnt: Tatsächlich ist das junge Mädchen ein Roboter mit einer künstlichen Intelligenz. In einer Art Testphase hat Shion den Auftrag erhalten, der Außenseiterin Satomi neuen Lebensmut zu geben. Dies führt bald zu einer Reihe von Verwicklungen, die nicht nur Satomis Leben auf den Kopf stellen. Yasuhiro YOSHIURAs temporeicher und knallbunter Anime ist Musical, Highschool-Komödie und Science-Fiction-Film mit philosophischem Tiefgang zugleich.

Wie immer wird vom Ansager darum gebeten, durchgehend eine medizinische Maske oder FFP2-Maske zu tragen (außer beim kurzen Essen und Trinken), um Infektionen zu vermeiden. Eine Frau weigert sich, diskutiert herum, dass wir doch eigentlich darüber hinweg seien, und wird vom Publikum gezwungen, die Maske zu tragen oder das Kino zu verlassen. Besonders die Sicht der japanischen bzw. deutsch-japanischen Kinogäste ist hier wieder interessant, die in ihrem Herkunftsland seit über 50 Jahren bei allen Gelegenheiten Gesichtsmasken tragen und sich sehr über die Einstellung mancher Deutschen wundern.

Von Regisseur Yasuhiro YOSHIURA wurde schon ein früherer großartiger Film „Patema Inverted“ bei NIPPON CONNECTION 2014 gezeigt. Auch sein neues Werk ist faszinierend. Der Zeichenstil ist phänomenal. Die Handlung ist sowohl hervorragende Unterhaltung als auch zivilisationskritische Science-Fiction. Der Erzählstil ist mitreißend und in positivem Sinn albern und kitschig. Der Themenbereich Künstliche Intelligenz ist sehr fesselnd und klug behandelt. Wie lange ist eine künstliche Intelligenz nur ein Programm und darf verändert oder gelöscht werden? Ab wann entwickelt sich eine Künstliche Intelligenz durch eigene Erfahrungen, Erlerntes und Gefühle vielleicht zum Menschen? Bei allen freundlichen, positiven und schönen Handlungselementen gruselt es mich allerdings auch schon sehr früh bei den ersten Anwendungen von so genannten „Smart Home“ Anwendungen, die auf Verlangen Vorhänge öffnen, Kaffee und Tee kochen und den Terminkalender der Familienangehörigen aufsagen. Diese Zivilisationskritik kommt sehr subtil und ist der größte Verdienst des Films. Darstellungen von künstlicher Intelligenz, Computerprogrammen oder technischer Aktivitäten erreichen im Animationsfilm oft Ausmaße digitaler Reizüberflutung. Das ist bei aller visuellen Virtuosität hier zum Glück gar nicht der Fall.
Der Film ist absolut großartig und für mich der absoluten Höhepunkt dieses Festivals. Volle Punktzahl *****

In unmittelbarer Entfernung auf der anderen Straßenseite des Kinos gibt es ein japanisches Restaurant. An einem früheren Abend war es voll besetzt und an diesem Sonntagabend ist es geschlossen. Das ist ein großer Fehler, denn in der Nachbarschaft ist ein japanisches Filmfestival. Also esse ich bei einem Thai-Imbiss auf der anderen Straßenseite ein Standard-Curry.

19:30 Uhr im Eldorado: Popran | 上田慎一郎

Shinichiro UEDAs Low-Budget-Zombie-Hit ONE CUT OF THE DEAD (2017 / NC ’18) eroberte die Herzen von Genre-Fans im Sturm. Auch sein neuester Streich dürfte dafür gute Chancen haben: Tagami ist Chef eines erfolgreichen Manga-Vertriebs und stellt eines Morgens schmerzlich fest, dass sein Penis verschwunden ist. Als wäre das nicht schlimm genug, düst sein bestes Stück auch noch mit rasender Geschwindigkeit durch die Lüfte Tokios! Wenn er seinen „Popran” nicht in sechs Tagen fängt, droht er zu verschwinden. Urkomische Slapstick-Einlagen treffen auf philosophische Vergangenheitsbewältigung.

Shinichiro UEDAs erwähnter Vorgängerfilm ist genau genommen kein Zombiefilm sondern ein Film-im-Film-Film, bei dem wir zunächst einen Zombiefilm in einer einzigen Einstellung und danach ein Making-of der Dreharbeiten erleben, was eine logistische Meisterleistung und eine echte filmische Überraschung war.
Akira Tagami ist ein erfolgreicher und skrupelloser Unternehmer. Aus Karrieregründen verließ er einst seine Frau und Tochter, brach den Kontakt zu seinen Eltern ab und ekelte seinen Geschäftspartner aus dem Unternehmen. Nach einem nächtlichen Beischlafabenteuer stellt er auf dem Klo fest, dass sein Penis nicht mehr da ist. Das geht interessanterweise auch anderen Männern so und Akira findet eine Selbshilfegruppe, die ihm Aufklärung und Hilfe bringt. Sollte die körperliche Wiedervereinigung nicht nach sechs Tagen erfolgen, stirbt der separierte Penis ab. Akira erfährt dann auch schnell durch die Begegnung mit einem Leidensgenossen, dass wohl nur Männer mit charakterlichen Mängeln und Rücksichtslosigkeit betroffen sind. So muss Akira nacheinander seinen früheren Geschäftspartner, seine Ex-Frau mit ihrer neuen Familie und seine Eltern heimsuchen, um neben wiederholten Phantomschmerzen Erleichterung zu erfahren.
Neben der wilden und originellen Grundidee erleben wir auch ein echtes filmisches Charakterdrama und nicht nur Verrücktheit und Klamauk.
Hochinterresant. Vier von fünf Sternen ****.

Vielen Dank für einige hochinteressante bis herausragende Filme. Domo Arigato.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Martin Betzwieser

Personifizierter Ärger über Meinungsmanipulation, Kino- und Kabarattliebhaber

Martin Betzwieser

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