Der Weg nach oben

Macho Der Journalist Oliver Gehrs öffnet die "Akte Spiegel"

Das einstige "Sturmgeschütz der Demokratie" feuert seit einigen Jahren vermehrt auf vermeintliche und tatsächliche Minderheiten: das Nachrichtenmagazin Der Spiegel. Einige Autoren haben sich an Biografien seines verstorbenen Herausgebers Rudolf Augstein versucht (Leo Brawand 1995, Dieter Schröder 2004). Wenige haben versucht das "System Spiegel" zu ergründen (Erich Kuby 1987). Vor einiger Zeit hat der kurzzeitige Spiegel-Redakteur (1999-2001) Oliver Gehrs eine Polemik vorgelegt: Der Spiegel-Komplex - Wie Stefan Aust das Blatt für sich wendete.

Vermutlich verdankt der Spiegel den Glauben, er sei ein kritisches Magazin, vor allem seiner rechten Konkurrenz Focus. Seit Helmut Markwort, ein bekennender FDP-Anhänger wie einst Rudolf Augstein, das bunte Bilderblatt erfolgreich in die Welt gesetzt hat, halten sich Spiegel-LeserInnen erst recht für links. Besonders erstaunlich ist es, sie noch donnerstags und freitags auf Bahnsteigen in "ihr" Blatt vertieft zu sehen. Sie glauben sich selbst nach fünf Tagen noch besser durch den Spiegel als durch eine anständige Tageszeitung informiert.

Wie machen die das beim Spiegel? Zum Wochenende treten sie mit Focus und den Sonntagsblättern des Springer-Verlages und der FAZ in einen Wettbewerb um die Vorabmeldungen in Radionachrichten und Tagesschau. Wer hier gewinnt, erhofft sich die besten Einzelverkaufszahlen am Sonntag und Montag. Und tatsächlich hat der Spiegel hier oft die Nase vorn. Das könnte etwas mit der versuchten Ausgewogenheit der öffentlich-rechtlichen Sender zu tun haben. Denn außer dem Spiegel werden alle andern genannten Blätter der Rechten zugeordnet. Ihr ideologisches Brett vorm Kopf schränkt außerdem ihre Sicht ein, in diesem Fall ein klarer Wettbewerbsnachteil. In dieser Konkurrenz hat der Spiegel seine verkaufte Auflage standhaft über einer Million und Focus (circa 700.000) auf Distanz gehalten. Der Stern ist von weit oben nach unten an ihm vorbeigezogen, und liegt jetzt meistens auf gleicher Höhe mit dem Spiegel. Diese Stabilität dürfte der größte Lorbeer von Spiegel-Chef Stefan Aust sein. Allein deswegen ist Ende 2004 sein Vertrag nach langem Ringen von den Gesellschaftern (die Spiegel-Mitarbeiter-Gesellschaft mit 50,5 Prozent, Gruner mit 25,5 Prozent und den Augstein-Erben mit 24 Prozent) verlängert worden.

Die Gründe, warum trotz dieses Erfolges so lang über den Vertrag gerungen wurde, sind in Gehrs´ Buch außergewöhnlich anschaulich beschrieben. Man kann es durchaus als Generationsporträt lesen, gerade weil es auf diesen Anspruch verzichtet. Porträtiert wird der Typus des linksradikalen Machos, der heute rechts oben im Milieu der Berliner Republik angekommen ist. Der Durchblicker-Gestus und die Ausübung von Macht über Menschen und Meinungen sind ihm wichtiger als politische Absichten. Die sind auswechselbar. Insofern passte Aust zu Schröder und Fischer. Sie spielten in einer Liga - wenn es sein musste, natürlich auch gegeneinander.

Besonders putzig lesen sich bei Gehrs die alten Geschichten über den jungen Aust. Die Karriereschritte waren Schülerzeitung, Konkret, St.-Pauli-Nachrichten, NDR-Panorama, Bestseller-Autor (unter anderem: Der Baader-Meinhof-Komplex). Besonders die ersten Kapitel wird Aust, der Gehrs zwar zweimal traf, dann aber eine weitere Zusammenarbeit für das Buch ablehnte, besonders ungern gedruckt sehen. Bei Konkret betätigte er sich als Linienpolizist, der nachweisen wollte, dass die Baader-Meinhof-Gruppe nicht radikal genug ist. Bei den St.-Pauli-Nachrichten verband er eine besondere Form von Arsch-und-Titten-Journalismus mit Anti-Springer-Kampagnen. Beide Seiten steigerten mit gegenseitiger Hetze erfolgreich ihre Auflage. Spiegel-LeserInnen der Baby-Boomer-Jahrgänge haben diese Phase nicht bewusst miterlebt, und werden sich von diesen Kapiteln exzellent unterhalten fühlen.

Dann kamen Austs erste Fernsehjahre. Er war, das sieht auch Gehrs so, über viele Jahre der beste Reporter des NDR-Politmagazins Panorama. Niemand übte eine radikalere Polizeikritik, niemand im deutschen Journalismus übertraf ihn in seinem Widerstand gegen die Atompolitik von SPD und CDU. In diese Zeit fiel sein erster und unvergesslicher Kontakt mit Augstein: er drehte ein vernichtendes Porträt über den damaligen (1972) FDP-Bundestagskandidaten. Erst 1980 war Augstein wieder bereit, überhaupt mit Aust zu sprechen. Im Rückblick wurde hier die Wurzel gelegt für Austs zweite TV-Karriere als erster und bisher einziger Chef von Spiegel-TV.

Die damals üblichen ideologischen Verhärtungen sind einem Anything goes gewichen. Da hat sich Aust ganz wie die zeitgenössische Gesellschaft entwickelt und schwimmt deswegen weiter oben. Den Augstein-Erben scheint das weniger zu gefallen. Wer in den letzten Jahren Texte von Jakob Augstein (in der Süddeutschen, neuerdings in Der Zeit) oder Franziska Augstein (zunächst im FAZ-Feuilleton, dann auch in der Süddeutschen) gelesen hat, wird bemerkt haben, warum. Sie stehen weit links vom heutigen Spiegel. Nie würde es ihnen einfallen, ausländische und religiöse Minderheiten in ähnlicher Weise wie zahlreiche Spiegel-Titelgeschichten unter Aust für wachsende Kriminalität und soziale Missstände verantwortlich zu machen. Wer Franziska Augstein bei der Trauerfeier für ihren verstorbenen Vater Ende 2002 erlebt hat, wird sich auch nicht vorstellen können, dass sie, wie Aust, fertig recherchierte Geschichten aus dem Blatt werfen würde, weil sie große Anzeigenkunden tangieren. Doch die Erben haben machttechnisch nichts zu melden. Nach Rudolf Augsteins Testament verloren sie ein Prozent ihrer Unternehmensanteile und die Vetomacht an Gruner Konzernmutter Bertelsmann war auch auf Augsteins Betteln hin nicht bereit, das wieder rückgängig zu machen.

Gehrs verzichtet darauf, Austs Privatleben in seinem Buch zu verarbeiten. Das ist nobel, denn darüber ist in Journalistinnenkreisen einiges zu hören. Dennoch hat Gehrs eine Situation erlebt, die im Paten hätte spielen können, als der Berliner Bürochef des Spiegel und Aust-Kronprinz Gabor Steingart am Telefon im sonoren Ton zu ihm sagte "Ich würde es nicht machen." Das allein ist ein Grund, das Buch zu lesen. Auch wenn es natürlich unfair und polemisch ist; wie der Spiegel.

Oliver Gehrs: Der Spiegel-Komplex. Wie Stefan Aust das Blatt für sich wendete. Droemer-Knaur, München 2005, 300 S., 19,90 EUR


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