Rollenmodell Ruhrgebiet

Medientagebuch Medien im multikulturellen Europa: Zwischen Kommerz, Politik und dem Wunsch nach Vielfalt

Ein weißhaariges Old-Boys-Network in Nordrhein-Westfalen hängt gerade jetzt die multikulturelle Fahne raus. Anführer ist der Intendant des Westdeutschen Rundfunks Fritz Pleitgen. Über ihn wird zur Zeit gemunkelt, ob er wirklich, wie er selbst bereits in Interviews äußerte, nach Ende seiner Amtszeit in Rente gehen will, oder ob er nicht schon einen Deal mit CDU-Ministerpräsident Rüttgers (CDU) über eine Wiederwahl hat. Die CDU soll dafür demnächst den Chef der WDR-Landesprogramme stellen dürfen, also der Programme, die über Rüttgers berichten. Pleitgen wusste schon immer, wie man Politiker in ihre eigenen Eitelkeiten einwickelt.

Dieses Talent hat ihm wohl auch bei dem hier anzuzeigenden Projekt geholfen. Am 23./24. November will der WDR zusammen mit France Télévisions, der Europäischen Rundfunkunion (EBU; Zusammenschluss der öffentlich-rechtlichen Sender), dem ZDF und der RAG (ehemals "Ruhrkohle AG") eine "Europäische Medienkonferenz" veranstalten: Die Rolle der Medien im multikulturellen Europa. Beziehungsreich gewählter Konferenzort wird das Weltkulturerbe "Zollverein" in Essen sein, eine architektonisch reizvolle, mit vielen öffentlichen Mitteln erhaltene ehemalige Zeche im sozialen Brennpunkt Essen-Katernberg.

An dieser Stelle muss ein nur scheinbar medienfremder Exkurs zur RAG eingefügt werden. Dieser neben Thyssen-Krupp, RWE und Eon mächtigste Konzern in Nordrhein-Westfalen ist einer der größten Subventionsempfänger unserer Republik. Bei ihm landet der Löwenanteil der Steinkohlesubventionen. Wie es sich unter Old Boys gehört, spendete die RAG ihrerseits in diesem Jahr 100.000 Euro an die SPD und 70.000 Euro an die CDU. Diese oftmals kontrovers diskutierten Sachverhalte überdecken den umfangreichen Konzernumbau, den die RAG bereits hinter sich gebracht hat. Sie importiert längst mehr Kohle als sie selbst im Inland fördert; sie ist ein bedeutendes Logistik- und Technologie-Unternehmen und einer der wichtigsten inländischen Immobilienhändler. Natürlich ist die RAG ein bedeutender Sponsor der Bewerbung Essens zur Kulturhauptstadt Europas und dürfte sich selbst auf die Schulter klopfen, wenn diese Bewerbung gelingt. Ihr Vorstandsvorsitzender ist einer der wichtigsten Strippenzieher in Nordrhein-Westfalen; auch er trägt sein üppiges Haupthaar in weiß: der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Werner Müller. Ex-Kanzler Schröder berät ihn - "unentgeltlich", heißt es.

Pleitgen und Müller sind coole Strategen. Sie haben begriffen, dass in dieser Zeit großer sozialer Abstiegsängste, Demographie- und Kulturpanik viel auf dem Spiel steht. Nur ein modernisierungsbereites, kulturell offenes und reiches Deutschland wird in ihren Augen im europa-internen wie im globalisierten Wettbewerb auf Dauer bestehen können. Der Westen Deutschlands und speziell das Ruhrgebiet hat hier reiche historische Erfahrungen, und angesichts seiner ökonomischen Probleme, des Abbaus der Traditionsbranchen Kohle und Stahl, auch erstaunliche Integrationserfolge. Ein wichtiger Ort dieser Erfolge ist die Medien- und Kulturwirtschaft, die dort bereits zehnmal so viele Arbeitsplätze bietet wie der Bergbau. Während in Berlin-Neukölln noch über Gewalt an Hauptschulen diskutiert wird, ein Problem, das im Ruhrgebiet seit über 100 Jahren bekannt ist, wird die Wiederbelebung von beinahe abgestorbenen Stadtteilen wir Gelsenkirchen-Horst oder Duisburg-Marxloh schon seit Jahren von türkischen Communities getragen, natürlich keineswegs nur zur Freude der dort ihre Rente verlebenden deutschen Eingeborenen, deren Großeltern noch aus Polen kamen.

Folgerichtig distanzierte NRW-Landesminister Armin Laschet (CDU) sich bei einer Vorbereitungskonferenz des WDR im März deutlich von der Fragebogenpolitik seiner Parteifreunde in Baden-Württemberg und Hessen. Dort wurde deutlich, was alles auf die Tagesordnung muss. Natürlich haben die französischen Partner viel in die Debatte einzubringen. Im Einbürgerungsrecht sind sie Deutschland immer noch weit voraus; das gilt auch für die Repräsentanz der Eingebürgerten in den Massenmedien; bei der Lösung der sozialen Probleme herrscht jedoch die gleiche Ratlosigkeit. Der Rückstand Deutschlands gegenüber Frankreich in der Bauwut von Vorstadtghettos erweist sich jetzt als - geringfügiger - Vorsprung. Die jeweiligen Einwanderungsschwerpunkte Maghreb und Türkei markieren Unterschiede, wie der Laizismus dort und der Kirchensteuerstaat hier.

Der Niederländer Frans Jennekens, Vertreter der EBU, trug ein markiges Plädoyer für Mainstreaming Diversity im Programm vor. Die Rückständigkeit der deutschen Debatten zeigt sich darin, dass "Diversity" hier immer noch ein gefürchtetes Fremdwort ist. Es meint, dass die Vielfalt der Bevölkerung, ob es sich nun um Meinungen, soziale Herkunft, kulturelle oder sexuelle Orientierungen, Religionen oder auch die Hautfarbe handelt, sich wiederfinden muss: bei der Personalentwicklung und in der Programmgestaltung, und zwar nicht in Nischen (das ZDF lobt bei solchen Gelegenheiten immer wieder gern sein Kleines Fernsehspiel, Sendezeit Montag nach Mitternacht!), sondern im Mainstream.

Der WDR betreibt seit einigen Jahren zusammen mit Radio Bremen und dem Rundfunk Berlin-Brandenburg im Radio die politisch und musikalisch hörenswerte Programmnische Funkhaus Europa. Sie hat sich als Talentwerkstatt für junge Medienmacher mit Migrationsherkunft oder aus binationalen Familien erwiesen. Dass der WDR von seinen Beschäftigten heute trimediales Arbeiten verlangt (TV, Radio und Internet) erweist sich für dieses besonders engagierte junge Personal als Karrierevorteil. Nur in wenigen WDR-Abteilungen ist ein vergleichbar hochmotiviertes Betriebsklima zu vernehmen. Offen bleibt, wie weit sich der Sender über das Ausmaß dieses "Humankapitals" überhaupt im Klaren ist. Denn in die Debatte über Die Rolle der Medien im multikulturellen Europa hätten diese MitarbeiterInnen sicher mehr Erfahrung einzubringen, als die weißhaarigen deutschen Old Boys. Sie sollten ihnen im November mal souverän den Vortritt lassen.


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