Rücktritt

Enzyklopädie Pascal Beucker und Frank Überall bringen leider wenig Licht in ein politisches Ritual

Wer schon immer einen Politiker oder eine Politikerin loswerden wollte, dem wird jetzt geholfen. Die taz-Mitarbeiter Pascal Beucker und Frank Überall, beide im klüngelerprobten Köln zuhause, haben mit Endstation Rücktritt einen erschöpfenden Überblick über das vorgelegt, was man sich oft wünscht, wenn man abends vor den Tagesthemen sitzt.

Es geht um "Aufrechte", die aus Überzeugung zurücktreten, zum Beispiel Gustav Heinemann. In den fünfziger Jahren trat er als Bundesminister zurück und aus der CDU aus, weil ihm die Westintegrationspolitik Adenauers nicht passte. Bei ihm war die Endstation jedoch nicht Rücktritt, sondern das Bundespräsidentenamt 1969, mit dem er aus heutiger Sicht als Vorbote der ersten SPD/ FDP-Koalition (1969-1982) gewertet wird. Auch Oskar Lafontaine findet Aufnahme in diese "Aufrechten"-Rubrik.

Dann gibt es in der Sicht von Beucker und Überall die "Verantwortlichen", die aufgrund von Fehlern anderer zurücktraten. Sie wird angeführt von Willy Brandt, der nach der Spionageaffäre Guilleaume von seinen Genossen Wehner und Schmidt 1974 zum Rücktritt gedrängt wurde.

Während die "Aufrechten" und die "Verantwortlichen" ein übersichtliches Feld darstellen, wird die Liste der "Sünderlein" mit zu guten "Nehmerqualitäten" schon länger, aber auch unbekannter. Wer kennt ausserhalb der Polit-Szene schon Detlev Samland (Ex-MdEP und Ex-NRW-Landesminister, heute Lobbyist in Berlin)? Wer erinnert sich noch an Ex-CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer?

Noch vergessener sind nur die "tief Gefallenen". Hier ist ein ehemaliger Landesminister der FDP zu nennen, der als Juwelenräuber erwischt wurde, der ehemalige Bundesminister und Ausverhandler des Einigungsvertrages Günther Krause und der ehemalige SPD-Bundestagsfraktionsführer Karl Wienand, der 1972 im Auftrag Herbert Wehners die entscheidenden CDU-MdBs gekauft hatte, um den Sturz Willy Brandts durch ein Misstrauensvotum zu verhindern, und der vor Jahr und Tag in den Kölner-Abfallwirtschaftsskandalen als bestechender Lobbyist wieder auftrat.

Nicht fehlen in den Aufzählungen dürfen außerdem die "langen Schatten der Vergangenheit" bei den ehemaligen Nazis in der westdeutschen Bundesrepublik und die privaten Verfehlungen (Seitensprünge, Telefonsex, sexueller Missbrauch), die einst von der "Vierten Gewalt", den Medien, schamhaft verschwiegen wurden, die heute aber schnell zum Gegenstand öffentlicher Erörterung werden können. Immerhin: nach dem Selbstouting von Wowereit und Westerwelle und seit dem missglückten Demontageversuch Schills gegen von Beust in Hamburg ist es kaum noch möglich, schwule Politiker zu erpressen. Es ist eben vieles auch gut gelaufen in den letzten Jahren.

Beucker und Überall bemühen sich um enzyklopädische Vollständigkeit, soweit es die deutsche Szene betrifft, ergänzen es durch einen kurzen Vergleichsblick ins Ausland und befördern manches aus Archiven ans Tageslicht. Schade nur, dass sie bei vielen Einzelfällen, bei denen es nahe gelegen hätte, nicht versucht haben, tiefer zu schürfen. So verweisen sie zum beispiel absolut korrekt beim - wahrscheinlichen - Selbstmord des ehemaligen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel (CDU) 1987 nur dunkel auf "abenteuerliche Gerüchte", für die sich "Indizien" aber keine "Beweise" finden ließen. Dass aber in zeitlicher Nähe zu diesem Vorgang der Schatzmeister der IG Metall auf Bahngleisen "tot aufgefunden" wurde und eine ehemalige Mitarbeiterin des seinerzeitigen SPD-Spitzenkandidaten in Schleswig-Holstein Egon Bahr durch eine Brandstiftung zu Tode kam, hätte zumindest zu vertiefenden Recherchen veranlassen können.

Noch magerer wirkt die Darstellung im Fall Möllemann, den Beucker und Überall aus nächster nordrhein-westfälischer Nähe beobachten konnten. Möllemanns spezielle Beziehungen in den arabischen Raum, sehr speziell nach Saudi-Arabien, sein merkwürdiges Funktionärsgebaren beim FC Schalke 04 und bei der Finanzierung der dortigen "Arena", der Verdacht auf seine Beteiligung an diversen Rüstungsgeschäften und seine antisemitischen öffentlichen Ausfälle finden alle keine Erwähnung.

Wer quasi lexikalisch die Geschichte einzelner deutscher Rücktritte nachschlagen möchte, ist bei diesem Buch richtig. Aber er sollte es als Anreiz nehmen, weiter zu forschen. Denn Politikerrücktritte sind ein weites Feld.

Pascal Beucker, Frank Überall: Endstation Rücktritt, Econ, Berlin 2006, 352 S., 18 EUR


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