In den achtziger Jahren handelte sich der mittlerweile verstorbene Dokumentarfilmer Robert Hartmann mit seiner Trilogie Essen durchqueren Ärger ein. Mittels einer Straßenbahn durchquerte er die Süd-Nordausdehnung der Stadt (38 Kilometer), verzichtete dabei auf Werbefilmästhetik, ließ die Menschen am Straßenrand zu Wort kommen, und fing damit die Kontraste dieser Stadt besser ein, als es Kommunalpolitikern und Rundfunkräten lieb war. Er durfte danach keine Filme mehr für den WDR drehen.
Es wäre das Experiment wert, ob die Honoratioren, die nun im Chor in die Kulturhauptstadtbegeisterung für Essen einstimmen, heute mehr Liberalität aufbrächten. Es ist kaum noch möglich, mit der Straßenbahn die Stadt zu erkunden, weil es sich heute überwiegend um eine milliardenteure U-Bahn handelt. Einstmals als Umsteigestationen belebte urbane Plätze der Innenstadt sind heute abgestorbene Asphaltwüsten.
Einst symbolisierten die Fußballvereine Schwarz-Weiss und Rot-Weiss Essen die sozialen Gegensätze: der eine der "Lackschuh-", der andere der "Arbeiter"-Verein; im Süden die besseren Stände, Arbeitgeber-Villen und Eigenheime der leitenden Angestellten, im Norden die Bergleute und Stahlarbeiter. Heute haben im Süden die Einsprengsel von grün-orientiertem Bildungsbürgertum stark zugenommen. Dafür gibt es im Norden keine Berg- und Stahlarbeiter mehr, sondern vorwiegend Rentner, Erwerbslose und MigrantInnen.
In der U-Bahn in den Essener Norden lässt sich heute täglich der Clash der Kulturen beobachten. Allerdings nicht der Clash der Klischees, die heute in den Medien breit getreten werden, sondern der Clash, der innerhalb der MigrantInnen-Szene durch die Familien geht. Selbstbewusste junge Frauen, oftmals Studentinnen an der nahe gelegenen Uni, an der auch das bekannte Zentrum für Türkeistudien angesiedelt ist, sitzen dort neben Kopftuchfrauen und oftmals verunsicherten jungen und alten Männern. Das deutsche Restpublikum ist eine schweigende Minderheit; "es denkt sich seinen Teil".
Für Spannungen ist also gesorgt in der neuen Kulturhauptstadt Europas. Die FAZ hat vorige Woche bereits vorgerechnet, was Essen und das Ruhrgebiet zum Beispiel Berlin voraus haben: Masse und Klasse, Opern- und Konzerthäuser ebenso wie freie Kunstszenen und türkische Communities. Die größte deutsche Moschee wird derzeit in Duisburg projektiert.
Doch wer wird sich des Kulturhauptstadt-Labels bemächtigen? Keine Stadt im Ruhrgebiet kann noch eigenständige Haushaltspolitik betreiben, kein regionalspezifisches Elend, aber ein böser Klotz am Bein. Der Regionalverband Ruhrgebiet müsste die Führung übernehmen, kann es aber nicht. Er wird aus den eigensinnigen Städten nur mit der zweiten politischen Reihe personell beschickt und ist durch die selbst verschuldete Schieflage einer abfallwirtschaftlichen Tochtergesellschaft ebenfalls manövrierunfähig. So droht im Hintergrund mal wieder - wie so oft im Ruhrgebiet - die "Fremdherrschaft" durch die Landesregierung, was der sicherlich zupass kommt. 2009 sind Kommunalwahlen, und im Kulturhauptstadtjahr 2010 Landtagswahlen.
Da aber auch die Landeskasse nicht üppig gefüllt ist, droht kulturell nun das nachvollzogen zu werden, was ökonomisch und sozialpolitisch schon lange zu beobachten ist: die offene Lenkung öffentlicher Angelegenheiten durch private Großkonzerne. Sie sind in Essen reich vertreten: RWE, Eon-Ruhrgas, RAG, Thyssen-Krupp und viele andere mehr. Zehn der 100 größten deutschen Unternehmen haben ihren Sitz in Essen. Entsprechend ist die Stadt mit Phallus-Symbolen vollgestellt. Die Firmen lassen sich nicht lange bitten, wenn es um die Finanzierung kultureller Großevents geht. Ruhrgas zum Beispiel sponsert große, sich selbst finanzierende Kunstausstellungen, um darüber Netzwerke in strategisch wichtige Länder wie Norwegen oder Russland zu knüpfen.
Ist das die Kultur, die Essen und das Ruhrgebiet jetzt brauchen? Vielleicht auch. Wichtiger aber wäre, das Ruhrgebiet als Labor zu zeigen. Es altert früher als der Rest Deutschlands. Es ist schon viel länger eine Einwanderungsgesellschaft. Es leidet unter sozialen Problemen, die anderen Ballungsräumen erst noch bevorstehen und bewältigt sie - bisher - besser als vergleichbare Regionen in England, Frankreich, Belgien. Die Kulturwirtschaft spielt dabei eine bedeutende Rolle, stellt sie doch jetzt schon zehn Mal so viele Arbeitsplätze wie der Bergbau.
Doch diese Entwicklung ist nicht stabil. Die kommunalen Kassen, das Rückgrat öffentlicher Kultur von Opern, Theatern, Orchestern und freien Gruppen, sind leer. Die Konzerne sind nicht an kultureller Basisarbeit, sondern an Imagetransfer interessiert. Die Medienstruktur müsste radikal umgestürzt werden. Das ganze Ruhrgebiet wird von einem einzigen Zeitungskonzern, der WAZ, beherrscht. Und selbst in einem Basismedium wie Wikipedia werden unter dem Essen-Eintrag so wichtige Einrichtungen wie die Kulturzentren Zeche Carl und Grend überhaupt nicht erwähnt. Diese Selbstgenügsamkeiten müssen im Kulturhauptstadtjahr 2010 aufgebrochen werden. Dann hätte es einen Wert, einen großen sogar.
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