Berlin Biennale: Welche Menschen?

Kunst Die von Kader Attia kuratierte Berlin Biennale zeigt traumasensitiv, wie die Gewalt der Kolonisierung in die Gegenwart hineinwirkt
Ausgabe 24/2022

Die inoffizielle Party zur Eröffnung der 12. Berlin Biennale schien dort stattzufinden, wo es niemand vermutet hätte: Im Beisein des Berliner Kultursenators Klaus Lederer sangen Tausende in der Zitadelle Spandau ein Lied davon, wie es wäre, zu träumen, dass der Schäfer und der Soldat sich gemeinsam unter den Sternenhimmel legten und Visionen austauschten. Auch das Lamm und der Leopard lägen friedlich beieinander, und in den Wüsten wüchsen Brunnen. Und dass es die Menschen selbst seien, die die Macht hätten, zu träumen und selbst zu herrschen, die Welt den Narren zu entreißen.

Natürlich war es Zufall, dass die New Yorker Poetin Patti Smith mit ihrer Band just am Abend der Eröffnung der Berlin Biennale in der Stadt auftrat, und dennoch wirkte ihre Selbstermächtigungs- und Solidaritätshymne People Have the Power wie ein verzerrtes Echo auf manche der dort gezeigten Arbeiten. In diesen nämlich geht es, scheinbar ähnlich, etwa um Olivenbauern und Soldaten, um Schildkröte und Nashorn im friedlichen Zwiegespräch, um Wüsten und Wasser. Aber die Soldaten verjagen die Olivenbauern, die Schildkröte und das Nashorn sind – ausgerottet – nur noch Geister, die Wüsten atomar verseucht und das Wasser kommt eiskalt aus den Wasserwerfern. Um dem entgegenzuwirken, könnten die Menschen zwar, so weit die träumerische Übereinstimmung von Lied und Kunst, die Macht haben, selbst zu regieren. Aber anders als bei Smiths tendenziell klassenkämpferisch konnotiertem Rocksong stellt sich bei der von dem algerienstämmigen französischen Künstler Kader Attia kuratierten 12. Berlin Biennale spezifischer (und teils gattungsexistenziell) die Frage: Welche Menschen?

Das Stichwort: „Reparatur“

Tags zuvor: Im Gebäude der Akademie der Künste am Hanseatenweg sitzt der in Berlin lebende Attia bei der Pressekonferenz auf dem Podium und erzählt in einem der Komplexität seines Unterfangens angemessen längeren Statement unter anderem von der aktuellen Notwendigkeit des Träumens. Der Traum gebe die Kraft, sich von obsessiver Macht zu emanzipieren – und dies sei einer der Gründe für ihn, entgegen anfänglichen Überlegungen doch eine weitere Ausstellung zum Thema Dekolonisierung zu konzipieren (wohl meinend: nachdem schon die beiden vorherigen Ausgaben der Biennale auf je unterschiedliche Weisen das Thema im Fokus hatten).

Mit dem Titel Still Present! setzen Attia und sein kuratorisches Team aus Ana Teixeira Pinto, Đỗ Tường Linh, Marie Helene Pereira, Noam Segal und Rasha Salti die Biennale nicht nur in einen politischen Kontext um Fragen der Zusammenhänge von Kapitalismus, Kolonialismus, Imperialismus und Faschismus (aber auch von Ökologie und Feminismus), aus denen sich teils auch die heftig ausgetragenen Diskussionen im Vorfeld der Documenta in Kassel speisten. Vielmehr ist es auch die Hoffnung Attias, dass Kunst die Fragen kulturellen Erbes, darunter auch ganz dezidiert solche der Restitution, auf eine Weise thematisiert, die traumasensitiv in die Gegenwart hineinwirkt. Das Stichwort lautet „Reparatur“. Die Arbeiten (darunter rund 30 Neuproduktionen) von Künstler*innen aus mehr als 30 Ländern sollen so insbesondere durch Kolonisierung geschlagene Wunden sichtbar machen: Still Present! heißt in diesem Sinn eben nicht nur „Noch Gegenwart!“, sondern auch „Noch anwesend!“, und es sind in vielerlei Hinsicht die entrechteten Ahnen (oft des Globalen Südens), die auf dieser Biennale in Form von verschütteten Kulturtechniken, menschlichen Überresten, Fremdklassifizierungen und Rückaneignungen, Archivmaterialien oder Tondokumenten zu Sichtbarkeit und Stimme finden sollen.

Die in Paris und Basel lebende Künstlerin Deneth Piumakshi Veda Arachchige, die von der Bevölkerungsgruppe der Adivasi auf Sri Lanka abstammt, hat so etwa die Reisen zweier Schweizer Naturforscher im 18. und 19. Jahrhundert ins damalige Ceylon nachrecherchiert. Die von ihnen nach Europa mitgebrachten Schädel von Adivasi und deren bis heute andauernder Verbleib in europäischen Museen sind Gegenstand einer aus Interviews, Videos, Archivalien, Text und Fotografien bestehenden eindrücklichen Arbeit, die nebenbei auch den absonderlichen Umstand vor Augen führt, dass der Kolonialismus die heutige Museumsberufsbezeichnung „Kurator für aktuelle menschliche Reste“ hervorgebracht hat. Insbesondere die lebensgroße Skulptur Self-Portrait as Restitution – from a Feminist Point of View, für die sich die Künstlerin in traditionalistisch indigener Weise nicht nur selbst abbildete und dabei westlich zugeschriebene Körpermerkmale an den entsprechenden Körperstellen vermerkte, sondern bei der ihr Ebenbild auch die Replik eines jener Schädel in den Händen hält, dürfte als Symbol des Biennale-Konzepts in Erinnerung bleiben. Piumakshi Veda Arachchiges Arbeit stellt sich dabei als nur eine Variante des kolonialen Prinzips „Cutting, Collecting, Classifying, Shipping, Analyzing“ dar, wie es in der Audiospur von Uriel Orlows Installation Reading Wood (Backwards) immer wieder heißt. Der in Lissabon, London und Zürich lebende Künstler stellt sich mit seiner Rauminstallation die Frage, was es bedeutet, dass tropisches Holz in westlichen Bibliotheken zum Trägermaterial jenes Wissens wurde, das genau die Ökonomien intensivierte, die Zerstörung pflanzlichen Lebens bedeute(te)n. Und die im indischen Kolkata lebende Künstlerin Khandakar Ohida plädiert anhand ihrer aus vielen Hunderten, nach gängiger Sammlungslogik unzusammenhängenden Objekten sowie einem Video bestehenden Arbeit Dream Your Museum für eine Subjektivierung und Anti-Institutionalisierung des Museumsprinzips. Auch oder gerade weil diese sonst sehr dokumentarische, informierende, dabei selten didaktische, bisweilen aktivistische, niemals überbordende oder überwältigende Biennale an dieser Stelle (in Form eines Gesprächs zwischen einem alten Mann und einem kleinen Mädchen) Sentimentalität wagt, magischer Realismus ins Spiel kommt: Ist dies die Art von Traum, nach der der Kurator strebt?

Hierauf gibt die Ausstellung keine vorschnelle Antwort; die Krisen der Gegenwart (wenngleich der Krieg in der Ukraine bei nur einer Arbeit, von Forensic Architecture, Thema ist) halten auch sie andernorts meist traumlos im Bann: Die in London lebende Künstlerin/Forscherin Susan Schuppli zeigt auf den Monitoren ihrer Serie Cold Cases, wie in verschiedenen polizeilichen und militärischen Kontexten Temperatur als Mittel politischer (und dabei oft rassistischer) Macht- und Gewaltausübung angewandt wird: sei es in den viel zu kalten Zellen der Grenzcamps der United States Immigration and Customs Enforcement (mit der symptomatischen Abkürzung „ICE“) oder beim Prinzip der „Starlight Tours“ (hier in Kanada dokumentiert), bei dem festgenommene Indigene bei Kälte bewusst in städtischen Außenbezirken ausgesetzt werden. Demgegenüber aber stehen politische Forderungen nach dem „Right to be cold“, dem lokalen und globalen Recht auf eine sich nicht erhitzende Erde. Der Klimakatastrophe bei der Produktion meint man im Video The Moon also Rises der in Paris lebenden Künstlerin Yuyan Wang zuzusehen, das an Godfrey Reggios Film Koyaanisqatsi erinnert: die Ausbeutung der Dunkelheit durch künstliches Licht, Rauchsäulen in Megastädten, digitalisierte Fertigungsprozesse, der Mensch bleibt in prometheischer Scham zurück, am Ende kommen Insekten.

Unaufgeregt eine eigene Spur

Dass sich diese 12. Berlin Biennale nicht mit dem Humboldt Forum gemeingemacht hat, ist so nachvollziehbar wie klug. Mit den beiden Gebäuden der Akademie der Künste, dem Hamburger Bahnhof, dem KW Institute for Contemporary Art und der ehemaligen Stasi-Zentrale als Ausstellungsorten zieht sie unaufgeregt ihre eigene Spur durch die Stadt. Als fast einzigem Ort, an dem eine Arbeit jederzeit im öffentlichen Raum wahrgenommen werden kann (ein großes Manko dieser Biennale!), ist, mit Nil Yalters teilfotografischer Dokumentationsarbeit Exile is a Hard Job, auch das Schaufenster des Kulturprojekts „Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt“ einbezogen. Und man ist weit entfernt davon, den noch exotischeren Berliner Ausstellungsort zu finden, wie es für ältere Biennale-Ausgaben irgendwann zum auch gentrifizierenden Problem wurde. Das exotische Barockgebäude auf der Spreeinsel hingegen ist für die Biennale nur der nützliche Elefant im Stadtraum. Die leere Mitte, die man braucht, um Kreise zu ziehen.

Info

Die 12. Berlin Biennale läuft bis 18. September

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