Vor etwa neun Jahren quartierte ich mich mit meinem Vater in das Gasthaus eines kleinen unterfränkischen Dorfs ein – Gasthof-Pension „Zum Böhlgrund“. Wir wollten eine Wanderung unternehmen, im Steigerwald, von dem ich zuvor nicht gehört hatte. Eschenau hieß der Ort, der letzte vor dem Wald. Dreifaltigkeitskirche, altes Fachwerkrathaus, Kneipptretbecken. In der Nacht bekam ich Fieber, das am Morgen nicht verschwunden war. Die lange geplante Wanderung wollte ich nicht absagen, wir liefen los. Nach einigen Stunden kamen wir an merkwürdigen Orten vorbei, Felsen mit goldener Schrift: Was. Wieso. VonWo. Wohin. Hatte mein Fieber zugenommen? Ich zückte meine Kamera, ich brauchte einen Beweis.
Einige Jahre später hörte ich von einem Küns
von einem Künstler niederländischer Herkunft, der in die Türkei, in den Iran, nach Afghanistan, nach Indien, auf die Seychellen und zu ungefähr 23 anderen Orten gereist war, um 1970 plötzlich in ein unterfränkisches Dorf zu ziehen, nach Eschenau: herman de vries. Nun richtet das Berliner Georg Kolbe Museum dem 88-jährigen Environmental Artist, der erst die Gartenbauschule Hoorn besuchte, um sich dann kleinzuschreiben und mit der Künstlergruppe nul – dem niederländischen Pendant der westdeutschen Gruppe ZERO – zusammenzuarbeiten und 2015 die Niederlande bei der Kunstbiennale in Venedig zu vertreten, eine Retrospektive aus: how green is the grass?Während der Eröffnungstage streicht Museumsdirektorin Julia Wallner heraus, in der Ausstellung gehe es um die „Vergegenwärtigung der Gleichrangigkeit von Mensch und Umwelt“, wobei sich Mensch und Natur „auf Augenhöhe“ begegnen sollen. Sie zeigt auf einen Baum, der hinter einer der Glasscheiben des großen Saals im Museumsgarten steht: i am, hat de vries in Goldschrift auf eine weiße Binde auftragen lassen, die um den Baum drapiert ist. Ob der Baum das mit der Augenhöhe auch so sieht? Eher nicht. Die von der Ausstellungskonzeption beschworene Indienstnahme („brandaktuell“!) von de vries’ teils Jahrzehnte zurückreichender Kunst als schon früher Ausdruck von jetzt angesagter anthropozänhafter Problematik im Sinne der Klimakatastrophe lässt sich aus den gezeigten Arbeiten des Künstlers so nicht herauslesen – und das nicht etwa, weil das welke Blattwerk und das Kleinholz der Kreisfläche, die der Künstler in einem Raum hat ausbreiten lassen („Waldboden aus dem Steigerwald. Im Besitz des Künstlers“), ganz authentisch aus Unterfranken nach Berlin transportiert wurden, wo man es genauso gut im zehn Minuten entfernten Grunewald hätte aufsammeln können. Nein, was de vries in seinem biologisch geschulten, aber nach künstlerischen Prämissen ausgeführten Werk zeigt, dürften Museumbesucher*innen eher als Bewusstmachung „intakter“ denn als Thematisierung beschädigter Natur wahrnehmen.KirschbaumblätterDabei ist etwas wie generelle Sorge um Natur, sind Achtung, Respekt den Arbeiten von de vries auf jeden Fall anzusehen, und so funktioniert diese in Kooperation mit dem Umweltbundesamt entstandene und unter der Schirmherrschaft der Bundesumweltministerin stehende Ausstellung eher wie ein Abschiednehmen von einem behaupteten Zustand des Naturschönen in der Kunst: 36 Eichenholz-Stümpfe, von de vries in den 90er Jahren gesammelt, liegen quadratisch angeordnet und skulptural im Raum, „nicht hierarchisch“, an der Wand hinter Glasplatten zusammengepresste Gräser als Ausschnitte von Rasenstücken. In einem anderen Raum sieht man zwei gerahmte Bilder mit vielen Blättern eines Kirschbaums. Einmal sind sie so ungeordnet zu sehen, wie sie an einem Nachmittag im Jahr 1979 auf das unter dem Baum liegende Blatt Papier schwebten, das andere Mal sind sie vom Künstler danach auf dem Papier geometrisch arrangiert worden. Zumindest de vries’ unterfränkische Sandsteinplatten und seine „Erdausreibungen auf Papier“, mit Erdpigmenten auf Papier aufgetragene Farbflächen unterschiedlichster Tönung, die auf seine Sammlung von etwa 9.000 Erdproben aus der ganzen Welt zurückgehen, rufen andere Bilder auf: Vor allem die Sandsteinplatten werfen de vries’ Kunst plötzlich ins Hier und Jetzt, indem sie – nolens volens durchaus baumarkttauglich – auch ein ungefähres Gefühl für die Bandbreite industriell genutzter Natur vermitteln.Der Mittelpunkt der Ausstellung ist dabei nur für den ortskundigen Wanderer als solcher zu erkennen: Es sind an der Wand hängende Landkarten, die sonst in der Küche des Künstlers liegen und auf denen er, Jahr für Jahr, seine Pfade durch den Steigerwald eingezeichnet hat. Wandern wir also mithilfe der Karten ein Stückchen mit, den Mühlbach quellwärts entlang, das Kneipptretbecken zur Linken, dann am Baumlehrpfad steil hoch, endlich der Große Knetzberg, die Nordspitze des Steigerwalds, die „mächtige Zufluchtsburg der Vorzeiten“, wie ein Schild die Wanderer auf dem Kelten-Erlebnisweg lehrt, der Blick hinüber durch die Buchenzweige nach Haßfurt und, weiter links, auf die Nasskühltürme des Atomkraftwerks in Grafenrheinfeld, die seit 2015 ausgedampft haben.Weiter am Weiler Neuhaus vorbei Richtung Zell, Richtung Mordgrund und Marswald, zuvor den Abzweig in den Böhlgrund mit dem Schlangenweg und dem Bleiwaldgraben, den tief eingeschnittenen Schluchtwäldern, Canyons, in deren Totholz, auf steilen, instabilen Hängen, wo der seltene Pechfüßige Rindenschmalkäfer lebt und sich Eisvogel und Feuersalamander aus kühlem Grunde gute Nacht sagen. Hier ist nicht das Auenland; hier ist Fangorn. Nicht im Steigerwald befindet sich de vries’ Atelier, der Wald „ist“ sein Atelier. So streift er also – wenn es seine Gesundheit noch will – umher, mit seinem langen weißen Bart, der, von Form und Länge urig, ähnlich dem, der früher auf Bonnie Prince Billy und heute auf Holger Friedrich wächst. Doch dies sind reine Äußerlichkeiten eines Mannes, den man schon als Waldschrat bezeichnete und der gelegentlich dem Nacktwandern frönt.Hier oben im Steigerwald also glitzert es manchmal am Wegesrand, etwa jenes Was, jenes Wieso, jenes VonWo jenes Wohin, die der Künstler in den 80er Jahren in die Felsen gemeißelt und in goldener Schrift ausgeschmückt hat, und man fragt sich, ob seine Wald-und-Flur-Arbeiten in einem Museum am richtigen Platz sind. Unten im Dorf, im „Böhlgrund“, findet dienstags des Sommers Wirtshaussingen mit Grill-Buffet bei 20 verschiedenen Fleischsorten statt; donnerstags ab elf gibt’s Schlachtschüssel, tagesunabhängig auch als Bikerarrangement. Der Vegetarier de vries streicht tätig durch den Steigerwald. Ihn kümmern weder Fleisch noch Brandaktualität.Placeholder infobox-1
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