Im Jahr 1981 steht ein 12-jähriger Junge im seinem Londoner Heimat-Suburb Woodford im Plattenladen. Normalerweise hört Hari die Band Ultravox oder Adam & the Ants; Popmusik funktioniert für ihn als Decodierungstool erster sexueller Gefühle und als Flucht vor den rassistischen Anfeindungen, denen er als Sohn einer Britin und eines Kaschmir-Pandits an der Schule ausgesetzt ist. An diesem Tag kramt er im Secondhand-Fach und entdeckt ein Cover, dessen Titel ihm, dem gerade erwachenden Science-Fiction-Fan, sofort ins Auge springt. Für Hari erweist sich The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars eines gewissen in London geborenen David Bowie als eine Offenbarung „out of time“.
Als 35 Jahre später David Bowie in New York stirbt, schreibt Hari Kunzru, der ehemalige Londoner Journalist und mittlerweile vielfach ausgezeichnete, nun in New York lebende Romanautor, für den Guardian die obige Geschichte auf. Fünf Jahre eher, 2011, hatte Kunzru seinen vierten Roman veröffentlicht: Gods Without Men. Mit My Revolutions hatte er zuvor (2007) die Radikalisierung und politische Verfolgung von Teilen der Londoner Linken in den 70er Jahren beschrieben. Nun wandte er sich wieder, wie schon in Transmission (2005), den USA zu: Nachdem er das Jahr 2010 „on the road“ verbracht hatte, oft in der Wüste, entstand mit Gods Without Men ein fragmentarischer Roman, eine Sammlung mal loser, mal offensichtlich verbundener Handlungsstränge, die durch die Zeiten springen: 1947, 2008, 1778, 1958, 1969, 1920 ... Schauplatz fast aller Geschichten ist die nähere Umgebung einer auffälligen Felsformation in der Mojave-Wüste, „Pinnacles“ genannt, in deren unmittelbarer Nähe immer wieder als übersinnlich interpretierte Lichterscheinungen wahrgenommen werden. Die wie eine natürliche Antenne gen Himmel ragenden Felsnadeln stehen für eine kosmische, magische Verbundenheit von allem mit allem.
Da ist die UFO-Sekte mit ihrer Erdbasis am Fuße der Felsen, mit entsprechenden Führern und entsprechender Gefolgschaft; in einer ersten, sich auf Paraphysik berufenden Ausprägung entstanden in den Flying-Saucer-verliebten 1950ern, in einer zweiten Ausprägung wiederauflebend in einer Manson-Family-ähnlichen Variante der späten 60er, tranceverliebt und selbstzerstörerisch, Biker, Spitzel, das FBI anziehend. Da ist ein unlängst abgehalfterter britischer Rockstar, dessen Platten klingen, „als kämen sie direkt vom Mars“, der sich nach einer nächtlichen Nahtoderfahrung bei den Pinnacles im Drop-Inn-Motel der nächstgelegenen Kleinstadt die Birne wegtrinkt. Da sind christliche Missionare im noch königlich-spanischen Kalifornien des 18. Jahrhunderts, merkwürdige Phänomene notierend. Da ist eine Indianersiedlung, durch Kolonisierung im prekären Zustand.
So viele Nicht-Kausalitäten
Da ist ein irakischer Flüchtling, der in einem sich in der Wüste befindenden Ausbildungscamp der US-Armee – in dem zu Kampferprobungszwecken irakische Dörfer nachgebaut sind – einen Iraker spielt. Da ist Coyote, der Trickster, halb Mensch, halb Tier, Figur des einzigen Romanstrangs ohne Jahreszahl, „out of time“, in der Zeit, „als die Tiere Menschen waren“. Und da sind vor allem der aus einer konservativen indienstämmigen Familie kommende, unsichere Programmierer Jaz, seine lebenslustige jüdische Frau Lisa und deren vierjähriger, autistischer Sohn Raj, der spurlos in der Wüste verschwindet – bei den Pinnacles. Eine Entführung? Außerirdische?
Es ist das Jahr 2008, kurz vor der Finanzkrise, und Jaz, der in New York eine Software namens „Walter“ programmiert, die massiv in das globale Marktgeschehen eingreift, kann sich die Nicht-Kausalitäten beim Verschwindens seines Sohnes nicht erklären. Als Programmierer sorgt er dafür, dass nationale Ökonomien den Bach runtergehen, indem er sich eine Ordnung zunutze macht, in der alles mit allem zusammenhängt: „Vermögenswerte der Rentner in Boca Raton, Florida, standen in Einklang mit dem Frachtaufkommen am Hafen von Long Beach, die Anzahl beschlagnahmter Immobilien im Südwesten entsprach der der Avatare in den beliebtesten Online-Games Asiens.“ Jaz’ eigene Ordnung, als Vater, bricht spätestens mit dem Verschwinden seines Sohnes zusammen.
Dieser kehrt nach Monaten scheinbar unbeschadet und doch als ein anderer unvermittelt zurück – wer oder was ist Raj nun? Es ist ein Motiv, das man, wie manch anderes in Kunzrus Buch, schon einmal in Ray Bradburys Mars-Chroniken gelesen zu haben meint, jenem aus lose zusammenhängenden Kurzgeschichten kompilierten Roman des amerikanischen Science-Fiction-Autors von 1950. Bradburys Trick war es, die Kolonisierung des Mars durch weiße US-Amerikaner in kritischem Gestus mit Motiven aus der Landnahme des amerikanischen Kontinents durch weiße Europäer kurzzuschließen. Die Vergangenheit als Echo der Zukunft: Ein Kolonist und ein Marsianer begegnen sich am gleichen Ort, aber nicht in der gleichen Zeit; christliche Missionare notieren merkwürdige Phänomene, ein vermisster Sohn kehrt zu seinen Eltern zurück, in Wirklichkeit ist es ein vom Aussterben bedrohter Marsianer, der nur in Gestalt eines Menschen erscheint, ein Trickster. Die den Mars kolonisierenden Erdbewohner in Bradburys Storys seien Plünderer, statt auf dem neuen Planeten etwas Neues zu entwickeln, beklagte das FBI in einer internen Akte.
Auch Kunzru spielt die einst vom FBI aufgedeckte kritische Karte: Sein Roman versteht sich vor allem als eine Kritik an globalen und interstellaren, an absoluten Expansionsideen: Was alle in seinem Buch zu suchen scheinen, ist nichts Geringeres als „Das Gesicht Gottes. Wonach sonst sollten wir suchen?“.
Wenn nun, neun Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, der liebeskind-Verlag Gods Without Men unter dem Titel Götter ohne Menschen in der Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner erstmals in deutscher Fassung herausbringt, fällt erst durch den zeitlichen Abstand auf, dass Kunzru in seinem zwischen Zeiten springenden Plot nicht in die Zukunft griff. Und man ist ihm dankbar dafür, denn die Magie seines Buches ist schon als gegenwärtige eine große.
Info
Götter ohne Menschen Hari Kunzru Nicolai von Schweder-Schreiner (Übers.), liebeskind 2020, 416 S., 24 €
Langgliedrige Figuren
Die Bilder dieser Ausgabe stammen vom Illustratoren-Duo ZEBU, das sich 2015 in Berlin gründete. Die beiden Künstler*innen sind gebürtige Berliner, sie lernten sich in der Graffiti- und Urban-Art-Szene kennen. Lynn Lehmann studierte an der Kunsthochschule Weißensee, Dennis Gärtner an der Universität der Künste. Mehr Info: www.z-e-b-u.com
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.