Im Thüringer Landtag, dem verrücktesten Parlament dieser Republik, bewarb sich Björn Höcke also wieder einmal um das Ministerpräsidentenamt. Der selbst ernannte Führer des völkischen Flügels der AfD trat an, um den einzigen linken Regierungschef in Deutschland zu stürzen. Es war, natürlich, wieder mal nur sehr schlechtes Theater.
Höckes taktisches Vehikel hieß diesmal „konstruktives Misstrauensvotum“ – was zumindest so etwas wie unfreiwillige Ironie besaß. Schließlich war das Höcke’sche Handeln schon immer ausschließlich destruktiv. Der Oberstudienrat für Geschichte und Sport will das bundesrepublikanische System, „das Regime“, wie er es nennt, von innen heraus zerstö
zerstören.Den Anlass für seinen neuesten PR-Angriff hatten ihm allerdings alle anderen Fraktionen geliefert: Weil einige Abgeordnete lieber an ihr Mandat anstatt ans Land dachten, kam nicht die nötige Zweidrittelmehrheit im Landtag zusammen, um die einst verabredeten Neuwahlen einzuleiten. Einzelne Abgeordnete aus der CDU und der Linken hatten ihre Unterstützung für die Abstimmung darüber zurückgezogen, die dann ganz abgeblasen wurde. Dies sei ein „Wortbruch“, tönte die AfD, der eine „beispiellose und selbst verschuldete Vertrauenskrise“ produziere – und beantragte das Misstrauensvotum.Das Irre an der Situation ist: Die AfD hat damit sogar recht. Die CDU, bisher die rot-rot-grüne Minderheitsregierung missmutig stützend, hat nach geplatztem Neuwahlplan „jegliche Zusammenarbeit“ aufgekündigt. Die rot-rot-grüne Koalition wirkt zerrüttet. Einen Plan, wie es nun bis zur regulären Landtagswahl im Jahr Herbst 2024 weitergehen soll, hat niemand.Der kleinste gemeinsame Nenner ist bloß, dass die AfD keine Macht erhalten darf. Und so rafften sich am vorigen Freitag die selbst ernannten demokratischen Kräfte noch ein letztes Mal vor den Ferien dazu auf, Höckes Show mit einer Gegenshow zu begegnen. In der Debatte über das Misstrauensvotum bezeichneten Linke, Sozialdemokraten und Grüne den AfD-Landeschef sehr laut als „Faschisten“. CDU-Fraktionschef Mario Voigt verglich Höcke mit Goebbels und warf ihm vor, „braunes Gift“ im Land zu verbreiten.Am Ende kam der AfD-Anführer nur auf die 22 „Ja“-Stimmen seiner Fraktion, nicht einmal die Hälfte der 46 notwendigen. Damit ging sein offenkundiger Plan nicht auf, das Parlament mit insgeheim in anderen Fraktionen abgestaubten Stimmen vorzuführen. Allerdings zahlte die CDU dafür einen Preis: Sie war bei der Abstimmung sitzen geblieben. Den veritablen Shitstorm, den die Absenz auslöste, nahm Fraktionschef Mario Voigt bewusst in Kauf. Sein Kalkül: Die Reaktionen wären noch verheerender ausgefallen, hätte jenseits der AfD auch nur ein Abgeordneter für Höcke votiert. Dann wäre die Union, verantwortlich oder nicht, dafür öffentlich verhaftet worden.Ach, Thüringen! Es ist ja nicht so, dass hier schon immer besonders schlecht Politik gemacht wurde. Ja, es handelt sich um ein kleines Land mit 2,1 Millionen Einwohnern und ohne Metropole. Und ja, es sind viele Amateure unterwegs – obschon sie oft genug aus dem Westen importiert sind.Doch fast 30 Jahre wurde der Freistaat einigermaßen solide regiert, erst ein knappes Vierteljahrhundert unter den Christdemokraten Bernhard Vogel, Dieter Althaus und Christine Lieberknecht – und dann fünf Jahre von einer rot-rot-grünen Koalition unter Ministerpräsident Bodo Ramelow, der ziemlich überzeugend den sozialdemokratischen Volkstribun gab. In all dieser Zeit galt Thüringen neben Sachsen als erfolgreichstes Land im Osten, mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit, den besten Bildungsergebnissen und einer kleinteiligen, aber stabilen Wirtschaft.Erst mal BundestagswahlDoch dann geschah bei der Landtagswahl im Oktober 2019 etwas, was noch nie zuvor in der Bundesrepublik geschehen war: Die Linke wurde dank der Popularität Ramelows erstmals stärkste Partei. Gleichzeitig verdoppelte die AfD unter dem Rechtsextremisten Höcke ihren Stimmenanteil und landete knapp vor der CDU, die ein gutes Drittel verlor. Im Ergebnis blockierten Linke (31 Prozent) und AfD (23,4 Prozent) eine satte Mehrheit der Sitze. Es ließ sich keine Mehrheitsregierung ohne ihre Beteiligung bilden. Da gleichzeitig die rot-rot-grüne Koalition ihre knappe Mehrheit verloren hatte, passte plötzlich keine bekannte politische Schablone auf die thüringischen Umstände.Es begannen Monate voller verzweifelter Gespräche, die zu einer rot-rot-grünen Minderheitskoalition führten, die schließlich am 5. Februar 2020 Ramelow in die Ministerpräsidentenwahl schickte. Weil die FDP Thomas Kemmerich als Gegenkandidaten aufstellte, die CDU für ihn stimmte und die AfD statt ihres eigenen Bewerbers insgeheim auch für den Liberalen votierte, kam es zur Regierungskrise, die in Berlin sogar die Große Koalition gefährdete.Der kollektive Schock saß derart tief, dass die CDU Ramelows Wiederwahl zuließ und ein Bündnis mit Rot-Rot-Grün schloss, das aber ausdrücklich nur bis zum Haushaltsbeschluss und der nachfolgenden Neuwahl des Landtags dauern sollte. Da diese Neuwahl abgesagt wurde, ist die Thüringer Politik in einer Endlosschleife gefangen, einem politischen Murmeltiertag.Dafür sind, neben den widrigen Umständen, natürlich die lokal Handelnden hauptverantwortlich. Aber die Mitverantwortung liegt in Berlin. Dort wird Thüringen längst nur noch als lästiges Problem betrachtet, das nicht die Kreise in der Hauptstadt zu stören hat. Nach der Landtagswahl 2019 behinderte die CDU-Bundesspitze Versuche der Thüringer Partei, mit Ramelow ins Geschäft zu kommen. Später, als Kemmerich gewählt, aber bereits seinen Rücktritt angekündigt hatte, befahlen das Kanzleramt und das Konrad-Adenauer-Haus schnelle Neuwahlen, ohne die politischen Implikationen und verfassungsrechtlichen Regularien durchdrungen zu haben. Es ging allein darum, die fragile Große Koalition im Bund zu stabilisieren.Inzwischen betrachtet die Berliner Politik die Thüringer Malaise nur noch aus gebotenem Abstand. Für CDU-Chef Armin Laschet ist noch sehr gegenwärtig, wie seine Vorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Tag nach dem Kemmerich-Debakel vergeblich in Erfurt versuchte, die störrische Landtagsfraktion von Neuwahlen zu überzeugen – und danach ihren Rücktritt ankündigte. Deshalb mischte er sich auch nicht öffentlich ein, als in Südthüringen Hans-Georg Maaßen als Bundestagskandidat aufgestellt wurde. Und deshalb war zum Neuwahl-Debakel nichts von ihm zu vernehmen.Auch der FDP-Vorsitzende hält Distanz. Nachdem Christian Lindner im Februar 2020 nach Erfurt reiste, um Kemmerich zum Rücktritt zu drängen und sich danach selbst genötigt sah, die Vertrauensfrage im Bundesvorstand zu stellen, hat er aufgegeben, den Landesverband zu disziplinieren. Er nahm zur Kenntnis, dass sich Kemmerich im Amt als Vorsitzender der Landespartei bestätigen ließ. Und er setzte sich nicht erkennbar dafür ein, dass die FDP mit ihren Stimmen die Neuwahl ermöglichte. Lindners mutmaßliches Motto: Kein Landtagswahlkampf in Thüringen bedeutet auch keinen Ärger mit Kemmerich, der trotz aller Drohungen aus Berlin nicht ausgeschlossen hatte, als Spitzenkandidat anzutreten. Dass jetzt eine Abgeordnete die Erfurter FDP-Fraktion verlassen will, womit die Liberalen die meisten parlamentarischen Rechte und Zuschüsse verlören, ist ja kein Berliner Problem.Thüringen lieber aus dem Bundestagswahlkampf herauszuhalten – darauf scheinen CDU, SPD, Grüne und FDP kurzfristig abzuzielen. Langfristig hoffen sie, dass sich die Erfurter Verhältnisse – also die gleichzeitige, überdurchschnittliche Stärke von Linke und AfD – von selbst erledigen. Irgendwann muss Ramelow ja abtreten, und sei es altersbedingt. Und ohne ihren Tribun dürfte die Thüringer Linke auf den ostdeutschen Durchschnitt von aktuell etwa 15 Prozent zurückschrumpfen.Und die AfD? Sie hat, wie die Landtagswahlen dieses Jahres zeigten, vorerst ihren Zenit überschritten. Ein empfindliches Minus bei der Bundestagswahl könnte die Partei endgültig zur Kleinpartei zurückstutzen. Am Ende gäbe es in Thüringen wieder eine der üblichen Mehrheitsregierungen, ohne dass die CDU ihre Abgrenzungsbeschlüsse überdenken oder die FDP sich mit Kemmerich anlegen müsste. Bis dahin müssen die Thüringer Beteiligten eben selbst miteinander zurechtkommen. Vor der Bundestagswahl, so die Bitte aus Berlin, soll bloß niemand in Erfurt einen Neuanfang wagen.Placeholder infobox-1
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