Dürfen Unschuldige getötet werden, um Unschuldige zu retten? Gibt es einen moralischen Impetus der Relation? Die Fragen, die der Erfolgsautor und Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach mit Terror vorgeblich aufwirft, sind eigentlich beantwortet. Straßen und Schulen heißen nach Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Georg Elser; beide nahmen bei ihren Anschlägen auf Hitler in Kauf, mit dem Diktator auch Kellner und Zuhörer, Protokollanten und Ordonanzen zu töten. Max Webers Verantwortungsethiker – und das darf als Kulturleistung gelten – ist längst mehrheitsfähig geworden und hat über den Gesinnungsethiker triumphiert.
Es mutet also seltsam gestrig an, wenn in dieser Spielzeit nach der parallelen Uraufführung am Schauspiel Frankfurt und am Deutschen Theater noch mehr als ein Dutzend Häuser Schirachs Bühnendebüt zeigen werden. Sein Plot: Eurofighter-Pilot Lars Koch hat sich über Befehl und Bundesverfassungsgericht hinweggesetzt und einen entführten Airbus mit 164 Menschen an Bord abgeschossen, den Terroristen auf 70.000 Zuschauer in der Allianz-Arena stürzen wollten. Mord, sagen Staatsanwältin und Nebenklägerin. Das kleinere Übel, entgegnen Pilot und Verteidiger. Entscheiden soll’s, meint Schirach, das zu Schöffen beförderte Publikum; zum Schluss wird abgestimmt und dann abgerechnet.
An der Spree verantwortet Hasko Weber die Produktion, am Main Intendant Oliver Reese. Zügig werden hier in naturalistischem Behördenchic die Schwächen von Vorlage und Inszenierung deutlich: Dramatisch ist nur die Ausgangslage, weil die ebenso determinierende wie schwache Konstruktion das Ensemble einengt und Reese der Wille zu formgebenden Eingriffen fehlt. Man redet nicht nur mitunter aneinander vorbei, sondern spielt auch so: Constanze Becker (Nebenklägerin) wähnt sich in einer Tragödie, Max Mayer (Verteidiger) in einer Komödie, Nico Holonics (Angeklagter) verortet sich mit situativer Akzentverschiebung dazwischen. Nur Bettina Hoppe (Staatsanwältin), Viktor Tremmel (Zeuge) und Martin Rentzsch (Richter) erreichen annähernd Normalform.
Wie beim Abgastest
Noch gravierender sind die inhaltlichen Defizite. Schirach wie Reese gaukeln mit akribischer Detaildichte – selbst das Verbandsabzeichen an Holonics̕ Uniform ist korrekt – eine So-könnte-es-jederzeit-bei-uns-passieren-Authentizität vor, der Plot aber ist wirklichkeitsnah wie mancher Abgastest. Jeder Realitäts-Check trägt diesen Bühnen-VW aus der Kurve: Die Entführer sind so freundlich, der Luftüberwachung frühzeitig ihre Absichten mitzuteilen, statt sich wie die erfolgsorientierten Kollegen vom 11. September in Schweigen zu hüllen; die Mitglieder des militärischen Lagezentrums revanchieren sich, indem sie das Stadion nicht – was, wir erfahren es minutiös, problemlos möglich gewesen wäre – räumen lassen; dieses Versäumnis wird offenbar erstmals in der Verhandlung thematisiert, und zwar von der Staatsanwaltschaft, nicht vom Verteidiger. Gut, dass Dummheit nicht strafbar ist. Die Gerichte in Schirachs Absurdistan hätten viel zu tun.
Sein Protagonist Lars Koch bleibt straffrei. Nach knapp zwei Stunden votieren die Zuschauerinnen und Zuschauer mit 240 zu 230 Stimmen für Freispruch. In Berlin, vermelden die Agenturen, war das Ergebnis (255 zu 207) noch deutlicher. Immerhin: Max Weber hätte sich gefreut.
Info
Terror Text: Ferdinand von Schirach, Regie: Oliver Reese Schauspiel Frankfurt
Kommentare 7
Dürfen Unschuldige getötet werden, um Unschuldige zu retten? Gibt es einen moralischen Impetus der Relation? Die Fragen, die der Erfolgsautor und Rechtsanwalt Ferdinand von Schirach mit ["]Terror["] vorgeblich aufwirft, sind eigentlich beantwortet.
Ist damit die "normative Kraft des Faktischen" gemeint? Denn eigentlich beantwortet wurden die Fragen bislang nicht. Es gibt eine Handhabung, die mittlerweile einigermaßen stabil scheint, andererseits - ich weiß, absurder Vergleich - betreffen die Stauffenbergs und Elsers nur spezifische Aspekte einer weitgehend verdrängten Vergangenheit: die offizielle Anerkennung von Andreas Baader oder Ulrike Meinhoff - um nur zwei repräsentative Namen zu nennen - als Freiheitskämpfer steht noch aus. Und wird auch noch lange ausstehen.
Na ja, und ob ein Ensemble "eingeengt" wird, weil das aufzuführende Theaterstück als langweilig empfunden wird - da erwarte ich von professionellen BühnenschauspielerInnen schon etwas mehr Professionalität.
Ob die "Frage" in irgendwelchen Büchern oder Diskussionen als beantwortet gibt, ist ja völlig wurscht, denn sie bleibt eine Wunde, die sich nicht schließt. (Das hat offenbar auch Schirach gereizt.) Und wenn nun auf der Bühne tatsächlich etwas Spannendes geschähe, das lebendig würde, sähe man sich als Zuschauer wohl auch hineingezogen in den Konflikt - aber eben nicht in ein ödes Seminar.
Max Webers Verantwortungsethiker – und das darf als Kulturleistung gelten – ist längst mehrheitsfähig geworden und hat über den Gesinnungsethiker triumphiert.
Als ob es Gesinnungsethik und Verantwortungsethik - jenseits konstruierter Beispiele - säuberlich getrennt und in Reinkultur gäbe. Aber eins ist klar: Von Verantwortungsethik kann keine Rede sein, wenn man für die Folgen seines Handelns nicht einstehen muss, wie z.B. der freigesprochene Pilot oder auch wie es in der Politik die Regel ist. M.a.W. die angeblich von ihrer Verantwortungsethik durchdrungen Politiker sind in Wahrheit weder Gesinnungs- noch Verantwortungstethiker, sondern Leute, die ihr Arbeit machen, einschließlich der dabei vorkommenden Fehler.
...die offizielle Anerkennung von Andreas Baader oder Ulrike Meinhoff - um nur zwei repräsentative Namen zu nennen - als Freiheitskämpfer steht noch aus. Und wird auch noch lange ausstehen.
Genauer gesagt: Dazu wird es auch nicht kommen. Denn Baader und Meinhoff haben ja (nur) grob geirrt. Warum sollte man grob irrenden Akteuren, wenn sie morden und sich dafür verantworten müssen, einen Freiheitskämpferstatus zubilligen?
"Wunde" ist ein bisschen hoch gegriffen. Aber um so einen Stoff literarisch zu bearbeiten, braucht man schon so ungefähr einen Sophokles und eine Antigone oder einen Kleist und einen Michael Kohlhaas oder einen Dürrenmatt samt Physikern. Damit können weder Schirach noch Holonics dienen.
Warum sollte man grob irrenden Akteuren, wenn sie morden und sich dafür verantworten müssen, einen Freiheitskämpferstatus zubilligen?
Die Frage ist nicht unberechtigt; andererseits wird sie üblicherweise machtrelativ und somit in Abhängigkeit von Interessenlagen beschieden. In 100 oder 200 Jahren wird es vielleicht doch den einen oder anderen Historiker interessieren, die Motive der RAF, speziell die Vorwürfe, die sie gegen Staat und ihre Primärziele erhoben haben, ohne den Einfluss der Selbstbehauptung der Gesellschaft zu überprüfen und in ein angemessenes Verhältnis zu ihren Taten zu setzen. Heute und noch für lange Zeit dürfen derartige Analysen in der Öffentlichkeit noch auf kein anderes Ergebnis als das gesellschaftlich erwünschte kommen.
Vielleicht ist die RAF uns aber tatsächlich zu nahe. Was ist mit Che Guevara oder anderen lateinamerikanischen Terroristen?