Elitärer Ungeist

Bühne Das Berliner Theatertreffen ignoriert die Provinz. Dabei wird in Erlangen und anderswo radikal inszeniert
Ausgabe 12/2015

Meist sind Theater düstere Orte, beherrscht von Kartellen des Mittelmaßes. Auf interessante Regisseure und außergewöhnliche Darsteller muss das Publikum verzichten, die Produktionen sind es nicht wert, bei einem überregionalen Festival gezeigt zu werden. Die Provinz? Kann man vergessen, muss man nicht hin. So jedenfalls dröhnte es unlängst vom Olymp des Berliner Theatertreffens herab, Juror Till Briegleb gab den götterstrengen Merkur. Im Interview mit dem Deutschlandradio urteilte er: „Es hat überhaupt keinen Sinn, in die Provinz zu gehen und Leuten die Hoffnung zu geben, sie könnten zum Theatertreffen eingeladen zu werden, wenn einfach diese ganzen Voraussetzungen nicht da sind.

Was so ungelenk formuliert wie gedacht war, findet immerhin den Widerspruch von Yvonne Büdenhölzer, die seit 2012 das Theatertreffen leitet. Die Jury habe auch Inszenierungen in Dinslaken, St. Pölten, Eggenfelden und Moers gesichtet, sagt sie auf Anfrage. Brieglebs Argument, das Festival sei nun mal eine „elitäre Veranstaltung“, will sie nicht gelten lassen: „Dieser Begriff wird häufig von außen an uns herangetragen. Er ist aber nicht Teil unseres konstitutiven Selbstverständnisses.“

Gereist wird also, geprüft auch, eingeladen nicht. Im vergangenen Jahr waren nur Produktionen aus Metropolen zu sehen, in diesem kann lediglich das Schauspiel Hannover die geschlossene Front der üblichen Verdächtigen durchbrechen. Ist die Provinz also so schlecht, wie Briegleb behauptet, die Jury so vorurteilslos, wie Büdenhölzer hofft? Wer in diesen Wochen das Herz des deutschen Gegenwartstheaters erkundet, kleine und mittlere Häuser besucht, kommt zu anderen Schlüssen.

Beispiel Aachen. Regisseurin Bernadette Sonnenbichler zeigt Michail Bulgakows Der Meister und Margarita. Ein praller Szenenreigen, virtuos erzählt, souveräne Darsteller, die dreieinhalb Stunden schnurren zusammen. Diese literarische Geschichtsrevue zieht eine Linie von Stalin über Breschnew zu Honecker, generiert eine aparte Geistigkeit, einen wahlweise kühlfett oder bittersüß durch osteuropäische Klangfarben untermalten Imaginationsnaturalismus. Bulgakow kann kaum stilsicherer, radikaler, mutiger inszeniert werden.

Beispiel Erlangen. Drei Schauspieler ergründen auf schlammiger Andeutungsbühne das Naturell von Rechtsterroristen, verlieren sich scheinbar in der spießigen Verworfenheit der Figuren, um dann als Individualreste nur noch im mordenden Kollektiv eine Identität zu finden. Lothar Kittsteins NSU-Stück Der weiße Wolf gerann bei der Uraufführung in Frankfurt zu einem homogenen Gemenge aus Dämonisierung und Verharmlosung. In Erlangen hingegen meistert die Bearbeitung von Johannes Wenzel die Schwächen der Vorlage, korrigiert sie gar.

Darmstadt in Zauberhaft

Beispiel Darmstadt. Wenn das Staatstheater Lutz Hübners Erfolgskomödie Frau Müller muss weg zeigt, ist es der Abend von Uwe Zerwer. Ein gestenscharfer Spieler, der die Häutung seiner Figur vom unsicheren Ehemann zum Teilzeitdespoten so bruchlos darstellt, dass jede Geste zum Indiz, jede Silbe zur Andeutung wird. Seit der Premiere vor 15 Monaten nimmt die furiose, aberwitzige Harlekinade von Regisseurin Judith Kuhnert eine ganze Stadt in Zauberhaft. Längst wurden die Aufführungen der größeren Kapazität wegen von den Kammerspielen ins Kleine Haus verlegt. Karten sind trotzdem kaum zu bekommen.

Willkommen im Schattenreich des deutschen Theaters. Diese und andere Produktionen eint der Makel, nicht in Hamburg, München oder Berlin entstanden zu sein. Oberhausens Intendant Peter Carp und Ralph Reichel, Chefdramaturg in Schwerin, widersprachen vergangenes Frühjahr im Branchenblatt Theater heute unisono, dass es den klassischen Karriereweg junger Darsteller von der Provinz an die großen Häuser noch gebe. Sie haben recht, für Regisseure ließe sich übrigens Ähnliches behaupten.

Der organisierte Theaterbetrieb hat sich von seiner Basis abgewendet, mehr als Kurzbesuche und wohlfeile Grußworte ist sie ihm kaum wert. Klaus Zehelein, der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, forderte bei den jüngsten Bayerischen Theatertagen im Festzelt auf dem Erlanger Marktplatz den Austausch, das Gespräch. Vier Stunden später und 300 Meter weiter hatten sich seine Prioritäten gewandelt; in der Pause der Eröffnungsinszenierung verließ er das Markgrafentheater, sein Ehrenplatz blieb leer. Frei nach Brecht: Die in der Provinz will man nicht sehen.

Aus Selbstvergleichgültigung erwächst Selbstreduktion. Das klassische spanische, das elisabethanische, das attische Theater, sie konnten zu Welttheatern werden, weil sie als Provinztheater nur auf ihr Publikum wirken wollten und aktuelle Bezüge herstellten. Als Aischylos’ Tragödie Die Perser 472 vor Christus am Fuß der Akropolis uraufgeführt wurde, lag es nur acht Jahre zurück, dass diese von den Invasoren zerstört worden war. Und heute? Beim letztjährigen Theatertreffen wurde Dimiter Gotscheffs Produktion Zement zur Hauptattraktion, ein zähes Trumm des Münchner Residenztheaters mit teurem Bühnenbild. Heiner Müller verortete den Plot in der entstehenden Sowjetunion, inszeniert wird eine Geschichte, die vor einem knappen Jahrhundert in einem Land spielt, das es seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gibt. Setzungen des Regisseurs, dramaturgische Wurfanker ins Hier und Jetzt? Fehlanzeige. Heiner-Müller-Gedächtnistheater mit Leni-Riefenstahl-Überwältigungsästhetik, zum Event verklärt. Ein Abgesang.

Mitunter wird es richtig absurd. Beim Theatertreffen verleiht die Alfred-Kerr-Stiftung, wie es auf deren Homepage ausdrücklich heißt, dem „besten Nachwuchsdarsteller“ den gleichnamigen Preis. Im vergangenen Jahr wurde Valery Tscheplanowa ausgezeichnet, zweifellos eine der ersten Schauspielerinnen des Landes. Ensemblemitglied des Residenztheaters, zuvor am Schauspiel Frankfurt und am Deutschen Theater Berlin, 2011 für den Faust-Theaterpreis nominiert. Geboren 1980. Nachwuchs?

Die Szene starrt auf Namen und Zentren, nicht nur vor und während eines Theatertreffens. Das Publikum verliert sie dabei aus dem Blick. Als Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner im Vorjahr die Häuser aufforderte, Aufführungen ins Internet zu übertragen, hagelte es Einwände. Die Schauspieler verlören ihre Seele, die Häuser ihr Publikum, nur die im Parkett finanzierten das System: Kein Argument war zu krude, um nicht in die Debatte geworfen zu werden. Dass Zuschauer zu alt, zu krank, zu arm sein können, um ins Theater zu gehen, war nicht zu hören. Der Hartz-IV-Regelsatz sieht monatlich 44,01 Euro für die Position „Freizeit, Unterhaltung, Kultur“ vor, viele Rentner und Geringverdiener haben nicht oder kaum mehr zur Verfügung. Auch wenn Länder und Kommunen häufig verbilligte Karten anbieten: Der Theaterbesuch, im antiken Athen selbst in Kriegszeiten kostenlos, ist für viele Luxus.

Ulm streamt

Ausgerechnet in Ulm und damit in der Provinz hat die Zukunft schon begonnen. Regelmäßig überträgt das älteste deutsche Stadttheater trotz seines kleinen Etats Produktionen aller drei Sparten ins Internet, inzwischen liegen die ersten Daten über die Nutzer vor. Nur ein Drittel von ihnen kommt aus der Umgebung, die Altersgruppen über 65 und unter 24 Jahren sind mit jeweils etwa 20 Prozent besonders stark vertreten. „Das Livestreaming soll eine Produktion bewerben und das Publikum neugierig machen. Es ist eine Ergänzung, kein Ersatz für das klassische Angebot“, sagt der Leitende Schauspieldramaturg Daniel Grünauer.

Lichte, innovative Provinz. In Ingolstadt wurde beim letzten Intendantenwechsel das Schauspielhaus wieder in Stadttheater umbenannt, immer wieder bespielt man öffentliche Flächen. „Wir sind für Ingolstadt da und nicht für das überregionale Feuilleton“, sagt Donald Berkenhoff, stellvertretender Intendant. Und das Landestheater Schwaben in Memmingen wird künftig von Kathrin Mädler geleitet, der eine große Karriere vorhergesagt wird. Auch sie giert nicht nach überregionaler Bedeutung: „Ich habe den Eindruck, dass gerade an kleinen Häusern häufig bewusster und konzeptioneller gearbeitet wird.“ Unterschiede in der Größe werden, wenn sie nur bedeutend genug sind, zu Unterschieden in der Art.

Diese Beispiele belegen, dass die Bühnen sich dem Ungeist des Elitären verweigern können, aus dem sich ausgerechnet in unserer säkularen Massengesellschaft wieder ein sakraler Theater- und Kulturbegriff speist. Die griechische Mythologie kennt den Riesen Antaios, der so lange unbesiegbar war, wie er seine Mutter Gäa, die Erde, berührte. Als er die Bodenhaftung verlor, tötete ihn Herakles. Mancher scheint sich dieser Lektion nicht zu entsinnen.

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